30. Dezember 2022
Der 23. April ist der „Welttag des Buches“. Bis zu diesem Tag möchte ich in lockerer Folge „Bücher und Texte, die mein Leben verändert haben“, noch einmal lesen und mich erinnern, in welcher Weise sie mich geprägt haben.
Da es dabei ziemlich schnell um mein zentrales Thema, die Vergänglichkeit, ging, werde ich sie in diese Rubrik stellen.
Viel Spaß beim Lesen!
Vor genau achtzig Jahren wurden die ersten Pippi Langstrumpf-Bücher veröffentlicht – wenn man bedenkt, dass Pippi bei Erscheinen des Buches neun Jahre alt war, wäre sie heute fast neunzig!
Zur Zeit meiner Einschulung lief „Pippi Langstrumpf“ als Serie im deutschen Fernsehen. Das Fernsehen war für uns damals ganz neu, es hatte noch keine Bedeutung in unserem Leben, aber diese Serie schaute ich mit großer Begeisterung! Pippi war die lustigste und aufregendste Freundin, die man sich nur vorstellen konnte!
Nach der letzten Folge lehnte ich verzweifelt weinend am Fernsehapparat – meine geliebte Pippi war unwiederbringlich verschwunden, und es gab kein Video oder keinen Stream, der sie mir hätte zurückbringen können.
Zum Trost schenkte mir meine Mutter das erste kleine, dicke Buch mit dem Versprechen, wenn ich es ausgelesen hätte, bekäme ich das zweite und dann sogar noch das dritte – was außergewöhnlich war, denn eigentlich gab es solche Geschenke nur zum Geburtstag oder zu Weihnachten.
Mit Pippi Langstrumpf lernte ich das Lesen, von Buch zu Buch ging es flüssiger, aber vor allem lernte ich, dass wir durch die Macht des geschriebenen Wortes die spannendsten Abenteuer erleben können, jederzeit und immer wieder, so oft wir es uns wünschen. und seitdem habe ich nie wieder aufgehört, zu lesen.
Ein neunjähriges Mädchen lebt allein mit einem Pferd und einem kleinen Affen in einem verfallenden Haus, ihr Vater ist von Bord seines Schiffes ins Meer gestürzt und die Mutter ist im Himmel, aber dieses kleine Mädchen ist alles andere als einsam und verzweifelt – sie „macht sich die Welt, wiedewiedewie sie ihr gefällt“!
Pippi Langstrumpf ist frei – sie entscheidet selbst, ob sie zur Schule gehen möchte oder nicht! Pippi kann keine „Plutimikation“ und sie kann nicht schreiben, aber in der ihr eigenen Logik beschließt sie, dass es für sie keine Bedeutung hat, ob sie weiß, wie man das Wort „seekrank“ schreibt, denn sie wird niemals seekrank, und wenn sie es doch würde, wäre es nicht wichtig, ob sie weiß, wie man es schreibt.
Auch ohne Schulbildung hat Pippi eine große Lebensklugheit entwickelt. Mein Lieblingssatz, den ich immer wieder zitiere, ist: „Wenn ihr nicht nach Hause geht, könnt ihr nicht wiederkommen, und das wäre doch schade.“
Um Pippi muss man sich keine Sorgen machen! Sie ist „reich wie ein Zauberer“ mit ihrem Koffer voller Goldstücke.
Pippi kann kochen, sie ist selbstbewusst, kerngesund und unbesiegbar.
Pippi reitet auf einem Stier, und sie hat keine Angst vor Tigern oder Haien.
Pippi hat ein Herz für die Schwachen und beschützt sie vor jeder Bedrohung.
Pippi ist stärker als der stärkste Mann der Welt, sie bändigt Polizisten, Einbrecher und Seeräuber.
Pippi ist immer gut gelaunt, und sie hat die tollsten Ideen. Mit Pippi wird jeder Augenblick zum Abenteuer und jedes Abenteuer zum Spiel. Sie hat das legendäre „Sachensuchen“ und „Nicht-den-Boden-berühren“ erfunden, das wir als Kinder so gern nachgespielt haben.
Pippi ist großzügig. Sie beschenkt ihre Freunde mit Schätzen, die sie aus aller Welt mitgebracht hat, und sie lädt auch alle anderen Kinder der kleinen, kleinen Stadt ein.
Pippi strotzt vor Phantasie. Mit ihrem Vater hat sie die ganze Welt bereist, und sie erzählt die ulkigsten Geschichten aus Ländern, die niemand außer ihr je gesehen hat: in Ägypten gehen alle Menschen rückwärts, in Hinterindien laufen sie auf den Händen, in Nicaragua gibt es keinen einzigen Menschen, der die Wahrheit sagt, in Brasilien haben sie Ei im Haar, in Guatemala schlafen sie mit den Füßen auf dem Kopfkissen, in China haben sie riesige Ohren und in Argentinien haben die Kinder ständig Ferien und essen den ganzen Tag Bonbons.
Pippis kleinen und großen Zuhörer können nie wirklich wissen, ob die originellen Berichte nicht vielleicht doch wahr sind – in den 60er und 70er Jahren war auch das Reisen noch etwas Besonderes. Thomas bringt es auf den Punkt: „Pippi lügt nicht richtig, sie tut nur, als ob das, was sie sich ausgedacht hat, gelogen ist.“
Die Diskussion über den Rassismus oder Kolonialismus der Bücher möchte ich an dieser Stelle nicht führen. Mit geht es darum, ein Buch vorzustellen, das mir als Kind viel bedeutet hat. Die heutzutage umstrittenen Passagen haben zumindest in mir keine Abwertung oder Überlegenheitsgefühle ausgelöst – eher im Gegenteil: ein freches Kind, das auf der ganzen Welt unterwegs war, das die Eigenheiten fremder Kulturen kennengelernt und überall Freunde gefunden hat, schien mir eher zu Toleranz gegenüber Anderen anzuregen, auch wenn man das heute vielleicht anders ausdrücken würde.
Für die Nachbarskinder Thomas und Annika öffnet sich eine Welt der Wunder, und wir kleinen Leser identifizieren uns mit diesen ganz gewöhnlichen, braven Kindern, die von dem aufregendsten Mädchen der Welt auserwählt wurden, ihre Freunde zu sein.
Pippi hat kein „Benehmen“, wie es in den 60er und 70er Jahren noch wichtig war, aber ihr Fehlverhalten wird so lustig geschildert, dass ihr niemand böse sein kann. Pippi Langstrumpf lebt gemäß der Aussage von Astrid Lindgren: „Gebt den Kindern Liebe, mehr Liebe und noch mehr Liebe, dann stellen sich die guten Manieren ganz von selbst ein.“
Und unbestreitbar hat Pippi das Herz auf dem rechten Fleck!
Bei so einer Kindheit ist es nur folgerichtig, dass Pippi niemals groß werden möchte. „Im Herbst werde ich zehn Jahre alt, und dann hat man wohl seine besten Tage hinter sich“, sagt sie, und gemeinsam mit Thomas und Annika verzehrt sie die berühmten Krummelusperlen, die verdächtig wie Erbsen aussehen, aber natürlich wollen wir mit den dreien daran glauben, dass dieses kleine Ritual am Ende des letzten Buches dazu beiträgt, dass Pippi Langstrumpf immer das bleibt, was sie ist: Ein unbesiegbares, immer fröhliches neunjähriges Mädchen, das unser Leben zum Leuchten bringt.