In der Fremde

Aus der Heimat hinter den Blitzen rot
Da kommen die Wolken her,
Aber Vater und Mutter sind lange tot,
Es kennt mich dort keiner mehr.

Wie bald, ach wie bald kommt die stille Zeit,
Da ruhe ich auch,
und über mir Rauscht die schöne Waldeinsamkeit,
Und keiner kennt mich mehr hier.

„Es kennt mich dort keiner mehr“ – dieser Mensch zieht eine schwermütige Lebensbilanz, er ist tief in seiner Seele einsam.
Das Leben hat ihn in die Ferne verschlagen, aber er hat dort keine neue Heimat gefunden, keine Seelenverwandten. Fremd ist der Sänger auch in der Fremde geblieben, die Einsamkeit hat er nicht überwinden können.
„Und keiner kennt mich mehr hier“ – nur eine kleine Umformulierung, und der Satz hat eine andere Bedeutung: Die Heimat ist nicht „dort“ sondern „hier“ – der Mensch scheint, sein nahendes Ende spürend, zurückgekehrt zu sein. Aber es gibt das Zuhause nicht mehr, er findet alles verändert vor, dort ist niemand, der sich an ihn erinnert und ihn auf seinem letzten Weg begleiten könnte.
Vielleicht gab es doch eine heimliche Hoffnung, „nach Hause“ zu kommen, jemanden vorzufinden, dem er sich in dieser letzten Stunde nah fühlen könnte. Aber nichts und niemand kommt ihm bekannt vor.
Und so nimmt er Abschied von der Welt im Bewusstsein, dass niemand „an seinem Grabe weinen“ wird. Die Bäume werden ungerührt weiter rauschen, die Stille durch keine Trauerklage zerrissen werden, trotzdem spricht er von „Ruhen“ und hofft, am Ende seinen Frieden zu finden.
So schildert es Eichendorff, aber wieder deutet ein kleines Wort alles um – Schumann hat den Seufzer „ach“ eingefügt. Der Dichter fügt sich in sein Schicksal, der Sänger leidet unter dem Von-der-Welt-getrennt-Sein.

Wie hast du dir dein Leben vorgestellt
Was hast du dir vorgenommen, was ist daraus geworden
Welche Entscheidungen hast du getroffen
Was hat die Pläne befördert oder verhindert
Hast du das Leben als Ganzes im Blick gehabt oder zu kurz geplant
Möglicherweise kommt deine große Stunde noch, aber vielleicht stellst du fest, dass dein Leben schon hinter dir liegt, ohne dass es wirklich begonnen hat
Das Lebensende kommt, ob du darauf vorbereitet bist oder nicht
Kommt am Ende die Reue oder bestätigt das Leben deinen Lebensplan
Wie oft heißt es „Ich will gar nicht alt werden, ich will jetzt etwas vom Leben haben“
Und doch werden auch oder gerade die Berufsjugendlichen alt
Sind auch kontaktfreudige Menschen im Alter einsam
Nützt weder eine große Familie noch ein reger Freundeskreis
Verhindert die größte Disziplin keine Erkrankung

Wir können dem Leben nicht mehr Tage geben, aber den Tagen mehr Leben
Was bedeutet das
Hast du die Grenzen deiner Belastbarkeit ausgetestet, überschritten oder vermieden
Hast du dich geschont oder verschlissen
Kennst du den Unterschied zwischen Genuss und Rausch
Was macht das Leben wirklich intensiv – Quantität oder Qualität, Breite oder Tiefe Extase oder Klarheit, durchfeierte Nächte oder Meditation, Exzess oder Ruhe
Jeder Tag bringt uns das Glück eines neuen Anfangs
Aber auch einen kleinen Abschied von einem Stück Jugend, einem Stück Leben
Läufst du hinterher oder gelingt es dir, das Leben in seiner Gesamtheit zu akzeptieren, das Älterwerden, Krankheit und Tod
Weißt du zu schätzen, was du hast
Ist dir bewusst, dass deine Zeit begrenzt ist
Dass dich oder deine Lieben an jedem Tag eine schwere Krankheit oder ein Unfall treffen kann
Dass du in jedem Augenblick aus deiner vertrauten Bequemlichkeit, deinen gewohnten Abläufen herausgerissen werden kannst durch einen unerwarteten Schicksalsschlag
„Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne“
Weißt du das Funktionieren deines Körpers zu würdigen
Bist du dankbar, dass du sehen, hören, laufen kannst
oder jammerst du erst, wenn du es nicht mehr kannst
Weißt du, wie kostbar der Schlaf ist
wie dankbar du für jede ungestörte Nacht sein kannst
oder erkennst du erst, wenn du unter Schlaflosigkeit leidest
aus Fürsorge für Kinder oder aus Sorge um Kranke
durch nächtliches Grübeln oder Schmerzen
dass es nicht Zeitverschwendung, sondern ein Segen ist, acht Stunden zu schlafen
Wieviel Zeit hast du für das Leben, für Familie, Freunde, für dich eingeplant
Hast du dich den Menschen, die dir begegnet sind, geöffnet
Ihnen zugehört, dich für sie interessiert
Hast du den Menschen, die dir nah sind, oft genug gesagt, was sie dir bedeuten
oder trauerst du erst, wenn du sie verloren hast, um versäumte Begegnungen
Hast du ihnen gut getan, haben sie dir gut getan
Hast du zu lange an unheilvollen Beziehungen festgehalten
oder hast du Menschen zu schnell fallen gelassen
Ist es wahr, dass ein junger Mensch bedauert, was er getan, ein älterer, was er nicht getan hat
Hast du das Gefühl, etwas versäumt zu haben, zu kurz gekommen zu sein
Versuchst du, noch etwas nachzuholen
Bist du enttäuscht oder blickst du auf ein erfülltes Leben zurück
Ist es dir gelungen, eine innige, liebevolle Beziehung zu leben
oder hättest du gern mit mehr Frauen, mehr Männern geschlafen
Mehr ausprobiert
Hast du einen Menschen zu gefunden, der dir wirklich nah ist, dem du vertraust
dem du dich auch schwach, ängstlich, traurig, hässlich und hilflos zeigen kannst oder war nichts und niemand gut genug für dich
Gab es immer noch spannendere Herausforderungen
Noch aufregendere Eroberungen, die du dir nicht entgehen lassen wolltest
Trägst du Verletzungen mit dir herum, hast du andere verletzt
Kannst du verzeihen, verstehen
Dich versöhnen mit deinen Widersachern, deinen Opfern

Hast du zu wenig von der Welt gesehen oder warst du zu wenig zu Hause
Hast du die Orte, an denen du gewesen bist, wirklich wahrgenommen
Macht es dich glücklich, viel zu arbeiten, viel Geld zu verdienen
Ein großes Auto zu fahren oder in einem prächtigen Haus zu wohnen

Hast du Zeit, Dinge zu ordnen, offene Fragen zu klären, Abschied zu nehmen
oder wirst du plötzlich und unvermutet aus dem Leben gerissen
Was tätest du, wenn du wüsstest, dass du nur noch ein Jahr zu leben hast
– Die klassische Frage
Hast du das Gefühl, etwas versäumt zu haben, zu kurz gekommen zu sein
Versuchst du, noch etwas nachzuholen
Bist du in der Lage, bewusst und gefasst zu gehen
oder klammerst du dich an das, was von dir übrig ist
Würdest du die Zeit nutzen können oder verzweifeln
Hättest du noch Freude am Leben oder würdest du verbittern
Dein Leben komplett umkrempeln oder genauso weiterleben
Würdest du alle Lieblingsbücher noch einmal lesen
Reisen, so viele Menschen wie möglich treffen
oder würdest du dich zurückziehen
Kämpfst du gegen die Vergänglichkeit, mit welchen Mitteln auch immer
oder fügst du dich in das Unvermeidliche
Stolperst du von Arzt zu Arzt, von Therapie zu Therapie
Legst du ungesunde Verhaltensweisen ab, stellst deine Ernährung um, treibst Sport
Suchst du die Schuld bei unpassenden Partnern, lieblosen Eltern oder hartherzigen Chefs

Möchtest du Klarheit oder beschönigende Worte
Halten deine Angehörigen dein Leid aus
Schont ihr euch gegenseitig oder könnt ihr ehrlich miteinander umgehen
„Du schaffst das!“ – Ermutigt dich dieser Satz oder setzt er dich unter Druck
Fühlst du dich verstanden
Oder bist du einsam, obwohl jemand bei dir ist
Bist du noch in der Lage, Anteil an den Themen Anderer zu nehmen
oder bist du auf dein eigenes Befinden reduziert
Was trägt dich in Zeiten von Krankheit und Schmerzen
Hast du einen Glauben, auf den du dich stützen kannst
Wirst du durch das Bewusstsein deiner Endlichkeit fromm
oder verlierst du durch die Verzweiflung dein Gottvertrauen

Wer könnte auf deiner Trauerfeier über dich sprechen
Partner, Familie, Eltern, Geschwister oder Kinder
Kann der Mensch an deiner Seite dich deinem Sinne darstellen
oder sind es langjährige Freunde, die alle Höhen und Tiefen miterlebt
Dich durch neue Lieben und Trennungen begleitet haben
Die deine Träume und Abgründe kennen
Ist es schwerer, die Lieben loszulassen, die dir innig verbunden waren
oder die, mit denen du dich nicht mehr aussprechen konntest

Was soll gesagt werden
Kannst du die Kontrolle über dein Selbstbild behalten
Möchtest du die Rede am liebsten selbst halten
Die letzte Chance nutzen, dich zu präsentieren
Den Eindruck, der von dir bleibt, zu gestalten
Welches Bild hast du von dir
Was denken Andere über dich
Deckt sich das mit deiner Selbsteinschätzung
oder weicht die Wahrnehmung Anderer von deiner eigenen ab
Ist das schmeichelhaft oder ärgerlich
Bleibst du in Anekdoten erhalten, fröhlichen, beschämenden oder unangenehmen
Gibt es Geheimnisse oder peinliche Entdeckungen
Was bleibt, wenn du gehst
Hast du Kinder und weitere Nachfahren, die dein Leben weitertragen
Welche Dinge überleben dich
Produzierst du Kunstwerke, Bücher oder Aufnahmen von bleibender Bedeutung
Wer legt Wert auf Photos, Filme, Briefe oder Tagebücher
Was wird für erhaltenswert erachtet, was entsorgt werden
Gibt es Streit um ein kostbares Erbe oder hinterlässt du nur Gerümpel

Wie kannst du dazu beitragen, nach einem langen, glücklichen Leben friedlich im Kreis deiner Lieben einschlafen zu können
Jeder Tag ist ein Geschenk
Nach dem Zustand, den du heute vielleicht bejammerst, wirst du dich später zurücksehnen
Vielleicht ist heute der letzte sorgen- und schmerzfreie Tag deines Lebens
Vielleicht siehst du den Menschen, den du gerade hektisch abfertigst, heute zum letzten Mal
Vielleicht kannst du morgen nicht mehr hören
aber heute hast du noch ein berührendes Konzert gehört
Vielleicht kannst du morgen nicht mehr sehen
aber du hast heute noch das Herbstlicht in den bunten Blättern bewundert
Vielleicht hast du morgen Brustkrebs
aber du hast deine Kinder gestillt, hast zärtliche Berührungen genossen
Vielleicht kannst du morgen nicht mehr laufen
aber du hast heute noch einen langen Spaziergang gemacht
Bist sogar zur Bahn gesprintet
Vielleicht verlierst du morgen einen lieben Menschen
aber du hast ihm heute mit Wärme in die Augen geschaut, seine Hand gehalten
noch ein intensives Gespräch mit ihm geführt
ihm einen tröstenden Brief geschrieben
Gelingt es dir, dankbar zu sein für das, was du gehabt hast
Dankbar zu sein für schöne Erlebnisse mit Menschen
Für Nähe, für intensive Begegnungen, tiefe Beziehungen
Für mit Leben gefüllte Augenblicke

Die große Lebensfreude, die Intensität, mit der ich vieles wahrnehme, und auch die Sehnsucht nach Harmonie und Frieden erwachsen aus dem Bewusstsein der Vergänglichkeit.
Ich wünsche mir, mein Leben so zu leben, dass ich am Ende sagen kann:
Ja, so kann ich mit gutem Gefühl in Frieden gehen.

„Und keiner kennt mich mehr hier“ – jetzt ist es zu spät, das Versäumte nachzuholen, der einsame Tod des Sängers wird nicht einmal die rauschenden Baumwipfel in ihrer Ruhe stören.

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