Joseph von Eichendorff
Aus der Heimat hinter den Blitzen rot
da kommen die Wolken her,
aber Vater und Mutter sind lange tot,
es kennt mich dort keiner mehr.
Wie bald, ach wie bald kommt die stille Zeit,
da ruhe ich auch, und über mir
rauscht die schöne Waldeinsamkeit,
und keiner kennt mich mehr hier.
„Es kennt mich dort keiner mehr“ – dieser Mensch zieht eine schwermütige Lebensbilanz, er ist tief in seiner Seele einsam. Das Leben hat ihn in die Ferne verschlagen, aber er hat dort keine neue Heimat gefunden.
„Und keiner kennt mich mehr hier“ – nur eine kleine Umformulierung, und der Satz hat eine andere Bedeutung: Die Heimat ist nicht „dort“, sondern „hier“ – der Mensch scheint, sein nahendes Ende spürend, zurückgekehrt zu sein. Vielleicht gab es eine heimliche Hoffnung, „nach Hause“ zu kommen und jemanden vorzufinden, dem er sich in dieser letzten Stunde nah fühlen könnte, aber es gibt das Zuhause nicht mehr, auch die alte Heimat ist ihm zur Fremde geworden. „Hier“ ist niemand, der sich an ihn erinnert und ihn auf seinem letzten Weg begleiten könnte.
Und so nimmt er Abschied von der Welt im Bewusstsein, dass niemand „an seinem Grabe weinen“ wird. Die Bäume werden ungerührt weiter rauschen, die Stille durch keine Trauerklage zerrissen werden, trotzdem spricht er vom „Ruhen“ und hofft, am Ende Frieden zu finden.
So schildert es Eichendorff, aber wieder deutet ein kleines Wort alles um – Schumann hat den Seufzer „ach“ eingefügt. Der Dichter fügt sich in sein Schicksal, der Sänger leidet unter dem Von-der-Welt-getrennt-Sein.
Wie hast du dir dein Leben vorgestellt
Was hast du dir vorgenommen, was ist daraus geworden
Welche Entscheidungen hast du getroffen, wovor hast du dich gedrückt
Was hat deine Pläne befördert oder verhindert
Hast du das Leben als Ganzes im Blick gehabt oder hast du zu kurz geplant
Wir können dem Leben nicht mehr Tage geben, aber den Tagen mehr Leben
Was bedeutet das
Rausch oder Ruhe, Extase oder Klarheit, durchfeierte Nächte oder Meditation Quantität oder Qualität, Breite oder Tiefe
Ist es wahr, dass ein junger Mensch bedauert, was er getan, ein älterer, was er nicht getan hat
Hast du deine Grenzen ausgetestet, überschritten oder vermieden
Hast du dich zu sehr geschont oder hast du dich verschlissen
Wie oft heißt es „Ich will gar nicht alt werden, ich will jetzt etwas vom Leben haben“
Aber auch oder gerade die Berufsjugendlichen werden alt
Auch kontaktfreudige Menschen sind im Alter einsam
Da nützt weder eine große Familie noch ein reger Freundeskreis
Jeder Tag bringt uns das Glück eines neuen Anfangs
Aber auch einen kleinen Abschied von einem Stück Jugend, einem Stück Leben
Kämpfst du gegen das Älterwerden
Oder gelingt es dir, Alter, Krankheit und Tod zu akzeptieren
Das Lebensende kommt, ob du darauf vorbereitet bist oder nicht
Blickst du auf ein erfülltes Leben zurück oder bist du zu kurz gekommen
Liegt dein Leben hinter dir, ohne dass es wirklich begonnen hat
Hast du auf etwas hingelebt, das nie eingetroffen ist
Auf jemanden gewartet, dem du nie begegnet bist
Hast du zu wenig von der Welt gesehen oder warst du zu wenig zu Hause
Hast du die Orte, an denen du gewesen bist, wirklich wahrgenommen
Versuchst du, Versäumtes nachzuholen
Ist dir bewusst, dass deine Zeit begrenzt ist
Dass dich oder deine Lieben an jedem Tag eine schwere Krankheit oder ein Unfall treffen kann
Dass du in jedem Augenblick aus deiner vertrauten Bequemlichkeit, aus deinen gewohnten Abläufen herausgerissen werden kannst durch einen unerwarteten Schicksalsschlag
Bist du darauf vorbereitet oder verdrängst du diesen Gedanken
Weißt du das Funktionieren deines Körpers zu würdigen
Bist du dankbar, dass du sehen, hören, laufen kannst
oder jammerst du erst, wenn du es nicht mehr kannst
Weißt du, wie kostbar der Schlaf ist
oder erkennst du erst, wenn du unter Schlaflosigkeit leidest
aus Fürsorge für Kinder oder aus Sorge um Kranke
durch nächtliches Grübeln oder Schmerzen
dass es nicht Zeitverschwendung, sondern ein Segen ist, acht Stunden zu schlafen
Wieviel Zeit hast du für das Leben, für Familie, Freunde, für dich eingeplant
Hast du dich den Menschen, die dir begegnet sind, geöffnet
Ihnen zugehört, dich für sie interessiert
Hast du den Menschen, die dir nah sind, oft genug gesagt, was sie dir bedeuten
oder trauerst du erst, wenn du sie verloren hast, um versäumte Begegnungen
Hast du ihnen gut getan, haben sie dir gut getan
Hast du zu lange an unheilvollen Beziehungen festgehalten
oder hast du Menschen zu schnell fallen gelassen
Ist es dir gelungen, eine innige, liebevolle Beziehung zu leben
oder hättest du gern mit mehr Frauen, mehr Männern geschlafen
Mehr ausprobiert
Hast du einen Menschen zu gefunden, der dir wirklich nah ist, dem du vertraust
dem du dich auch schwach, ängstlich, traurig, hässlich und hilflos zeigen kannst oder war nichts und niemand gut genug für dich
Gab es immer noch spannendere Herausforderungen
Noch aufregendere Eroberungen, die du dir nicht entgehen lassen wolltest
Trägst du Verletzungen mit dir herum, hast du andere verletzt
Kannst du verstehen, vergeben
Dich versöhnen mit deinen Widersachern, deinen Opfern
Wirst du plötzlich und unvermutet aus dem Leben gerissen
oder schaffst du es, deine Angelegenheiten zu ordnen
Offene Fragen zu klären, Abschied zu nehmen
Was tätest du, wenn du wüsstest, dass du nur noch ein Jahr zu leben hast
Die klassische Frage
Bist du in der Lage, bewusst und gefasst zu gehen
oder klammerst du dich an das, was von dir übrig ist
Würdest du die Zeit nutzen können oder verzweifeln
Hättest du noch Freude am Leben oder würdest du verbittern
Dein Leben komplett umkrempeln oder genauso weiterleben
Würdest du alle Lieblingsbücher noch einmal lesen
Reisen, so viele Menschen wie möglich treffen
oder würdest du dich zurückziehen
Möchtest du noch so viel wie möglich von der Welt mitnehmen
Oder ihr so viel wie möglich hinterlassen
Kämpfst du mit allen Mitteln gegen die Vergänglichkeit
Stolperst du von Arzt zu Arzt, von Therapie zu Therapie
Legst du ungesunde Verhaltensweisen ab, stellst deine Ernährung um, treibst Sport
Suchst du die Schuld bei unpassenden Partnern, lieblosen Eltern oder hartherzigen Chefs
oder fügst du dich in das Unvermeidliche
Möchtest du Klarheit oder beschönigende Worte
Halten deine Angehörigen dein Leid aus
Schont ihr euch gegenseitig oder könnt ihr ehrlich miteinander umgehen
„Du schaffst das!“ – Ermutigt dich dieser Satz oder setzt er dich unter Druck
Fühlst du dich verstanden
Oder bist du einsam, obwohl jemand bei dir ist
Bist du noch in der Lage, Anteil an den Themen Anderer zu nehmen
oder bist du auf dein eigenes Befinden reduziert
Was trägt dich in Zeiten von Krankheit und Schmerzen
Hast du einen Glauben, auf den du dich stützen kannst
Wirst du durch das Bewusstsein deiner Endlichkeit fromm
oder verlierst du durch die Verzweiflung dein Gottvertrauen
Wer könnte auf deiner Trauerfeier über dich sprechen
Partner, Familie, Eltern, Geschwister oder Kinder
Kann der Mensch an deiner Seite dich deinem Sinne darstellen
oder sind es langjährige Freunde, die alle Höhen und Tiefen miterlebt
Dich durch neue Lieben und Trennungen begleitet haben
Die deine Träume und Abgründe kennen
Ist es schwerer, die Lieben loszulassen, die dir innig verbunden waren
oder die, mit denen du dich nicht mehr aussprechen konntest
Was soll gesagt werden
Kannst du die Kontrolle über dein Selbstbild behalten
Möchtest du die Rede am liebsten selbst halten
Die letzte Chance nutzen, dich zu präsentieren
Den Eindruck, der von dir bleibt, zu gestalten
Welches Bild hast du von dir
Was denken Andere über dich
Deckt sich das mit deiner Selbsteinschätzung
oder weicht die Wahrnehmung Anderer von deiner eigenen ab
Ist das schmeichelhaft oder ärgerlich
Bleibst du in Anekdoten erhalten, fröhlichen, beschämenden oder unangenehmen
Gibt es Geheimnisse oder peinliche Entdeckungen
Was bleibt, wenn du gehst
Hast du Kinder und weitere Nachfahren, die dein Leben weitertragen
Welche Dinge überleben dich
Produzierst du Kunstwerke, Bücher oder Aufnahmen von bleibender Bedeutung
Wer legt Wert auf Photos, Filme, Briefe oder Tagebücher
Was wird für erhaltenswert erachtet, was entsorgt werden
Gibt es Streit um ein kostbares Erbe oder hinterlässt du nur Gerümpel
Wie kannst du dazu beitragen, nach einem langen, glücklichen Leben friedlich im Kreis deiner Lieben einschlafen zu können
Jeder Tag ist ein Geschenk
Nach dem Zustand, den du heute vielleicht bejammerst, wirst du dich später zurücksehnen
Vielleicht ist heute der letzte sorgen- und schmerzfreie Tag deines Lebens
Vielleicht siehst du den Menschen, den du gerade hektisch abfertigst, heute zum letzten Mal
Vielleicht kannst du morgen nicht mehr hören
aber heute hast du noch ein berührendes Konzert gehört
Vielleicht kannst du morgen nicht mehr sehen
aber du hast heute noch das Herbstlicht in den bunten Blättern bewundert
Vielleicht hast du morgen Brustkrebs
aber du hast deine Kinder gestillt, hast zärtliche Berührungen genossen
Vielleicht kannst du morgen nicht mehr laufen
aber du hast heute noch einen langen Spaziergang gemacht
Bist sogar zur Bahn gesprintet
Vielleicht verlierst du morgen einen lieben Menschen
aber du hast ihm heute mit Wärme in die Augen geschaut, seine Hand gehalten
noch ein intensives Gespräch mit ihm geführt
ihm einen tröstenden Brief geschrieben
Gelingt es dir, dankbar zu sein für das, was du gehabt hast
Dankbar zu sein für schöne Erlebnisse mit Menschen
Für Nähe, für intensive Begegnungen, tiefe Beziehungen
Für mit Leben gefüllte Augenblicke
Die große Lebensfreude, die Intensität, mit der ich vieles wahrnehme, und auch die Sehnsucht nach Harmonie und Frieden erwachsen aus dem Bewusstsein der Vergänglichkeit.
Ich wünsche mir, mein Leben so zu leben, dass ich am Ende sagen kann:
Ja, so kann ich mit gutem Gefühl in Frieden gehen.
„Und keiner kennt mich mehr hier“ – jetzt ist es zu spät, das Versäumte nachzuholen, der einsame Tod des Sängers wird nicht einmal die rauschenden Baumwipfel in ihrer Ruhe stören.