In der Fremde

Aus der Heimat hinter den Blitzen rot
Da kommen die Wolken her,
Aber Vater und Mutter sind lange tot,
Es kennt mich dort keiner mehr.

Wie bald, ach wie bald kommt die stille Zeit,
Da ruhe ich auch,
und über mir Rauscht die schöne Waldeinsamkeit,
Und keiner kennt mich mehr hier.

„Es kennt mich dort keiner mehr“ – dieser Mensch zieht eine schwermütige Lebensbilanz, er ist tief in seiner Seele einsam.
Das Leben hat ihn in die Ferne verschlagen, aber er hat dort keine neue Heimat gefunden, keine Seelenverwandten. Fremd ist der Sänger auch in der Fremde geblieben, die Einsamkeit hat er nicht überwinden können.
„Und keiner kennt mich mehr hier“ – nur eine kleine Umformulierung, und der Satz hat eine andere Bedeutung: Die Heimat ist nicht „dort“ sondern „hier“ – der Mensch scheint, sein nahendes Ende spürend, zurückgekehrt zu sein. Aber es gibt das Zuhause nicht mehr, er findet alles verändert vor, dort ist niemand, der sich an ihn erinnert und ihn auf seinem letzten Weg begleiten könnte. Vielleicht gab es doch eine heimliche Hoffnung, „nach Hause“ zu kommen, jemanden vorzufinden, dem er sich in dieser letzten Stunde nah fühlen könnte. Aber nichts und niemand kommt ihm bekannt vor. Und so nimmt er Abschied von der Welt im Bewusstsein, dass niemand „an seinem Grabe weinen“ wird.

Wie hast du dir dein Leben vorgestellt
Was hast du dir vorgenommen, was ist daraus geworden
Jeder Tag bringt uns das Glück eines neuen Anfangs
Aber auch einen kleinen Abschied von einem Stück Jugend, einem Stück Leben
Gelingt es dir, das Leben in seiner Gesamtheit zu akzeptieren
das Älterwerden, Krankheit und Tod
Weißt du zu schätzen, was du hast
Ist dir bewusst, dass deine Zeit begrenzt ist
Dass dich oder deine Lieben an jedem Tag eine schwere Krankheit oder ein Unfall treffen kann
Dass du in jedem Augenblick aus deiner vertrauten Bequemlichkeit, deinen gewohnten Abläufen herausgerissen werden kannst durch einen unerwarteten Schicksalsschlag
„Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne“
Weißt du das Funktionieren deines Körpers zu würdigen
Bist du dankbar, dass du sehen, hören, laufen kannst
oder jammerst du erst, wenn du es nicht mehr kannst

Wieviel Zeit hast du für das Leben, für Familie, Freunde, für dich eingeplant
Hast du zu wenig von der Welt gesehen oder warst du zu wenig zu Hause
Hast du die Orte, an denen du gewesen bist, wirklich wahrgenommen
Hast du dich den Menschen, die dir begegnet sind, geöffnet
Ihnen zugehört, dich für sie interessiert
Hast du den Menschen, die dir nah sind, oft genug gesagt, was sie dir bedeuten
oder trauerst du erst, wenn du sie verloren hast, um versäumte Begegnungen, um verpasste Gelegenheiten

Wen wirst du überleben, von wem Abschied nehmen müssen
Eltern, Schwiegereltern, Tanten, noch ist die Generation zahlreich vertreten.
Aber wie oft ist die natürliche Reihenfolge schon durchbrochen worden wie viele Einschläge gab es auch in meiner Altersstufe
und sogar Kinder haben meine Freunde verloren
Ist es schwerer, die Lieben loszulassen, die dir innig verbunden waren
oder die, mit denen du dich nicht mehr aussprechen konntest
Trägst du Verletzungen mit dir herum, hast du andere verletzt
Kannst du verzeihen, verstehen
Dich versöhnen mit deinen Widersachern, deinen Opfern    

Wirst du plötzlich aus dem Leben gerissen
oder hast du Zeit, Dinge zu ordnen, offene Fragen zu klären, Abschied zu nehmen
Was tätest du, wenn du wüsstest, dass du nur noch ein Jahr zu leben hast – Die klassische Frage
Hast du das Gefühl, etwas versäumt zu haben, zu kurz gekommen zu sein
Versuchst du, noch etwas nachzuholen
Würdest du die Zeit nutzen können oder verzweifeln
Dein Leben komplett umkrempeln oder genauso weiterleben
Würdest du reisen, so viele Menschen wie möglich treffen
oder würdest du dich zurückziehen
Möchtest du Klarheit oder beschönigende Worte
Halten deine Angehörigen dein Leid aus
Schont ihr euch gegenseitig oder könnt ihr ehrlich miteinander umgehen
„Du schaffst das!“ – Ermutigt dich dieser Satz oder setzt er dich unter Druck
Fühlst du dich verstanden
Oder bist du einsam, obwohl jemand bei dir ist
Bist du noch in der Lage, Anteil an den Themen Anderer zu nehmen
oder bist du auf dein eigenes Befinden reduziert

Was trägt dich in Zeiten von Krankheit und Schmerzen
Hast du einen Glauben, auf den du dich stützen kannst
Wirst du durch das Bewusstsein deiner Endlichkeit fromm
oder verlierst du durch die Verzweiflung dein Gottvertrauen

Was bleibt, wenn du gehst
Hast du Kinder und Nachfahren, die dein Leben weitertragen
Welche Dinge überleben dich
Produzierst du Kunstwerke, Bücher oder Aufnahmen von bleibender Bedeutung
Wer legt Wert auf Photos, Filme, Briefe oder Tagebücher
Was wird für erhaltenswert erachtet, was entsorgt werden
Gibt es Streit um ein kostbares Erbe oder hinterlässt du Gerümpel

Wie kannst du dazu beitragen, nach einem langen, glücklichen Leben friedlich im Kreis deiner Lieben einschlafen zu können

Jeder Tag ist ein Geschenk
Nach dem Zustand, den du heute vielleicht bejammerst, wirst du dich später zurücksehnen
Vielleicht ist heute der letzte sorgen- und schmerzfreie Tag deines Lebens
Vielleicht siehst du den Menschen, den du gerade hektisch abfertigst, heute zum letzten Mal
Vielleicht kannst du morgen nicht mehr hören
aber heute hast du noch ein berührendes Konzert gehört
Vielleicht kannst du morgen nicht mehr sehen
aber du hast heute noch das Herbstlicht in den bunten Blättern bestaunt
Vielleicht hast du morgen Brustkrebs
aber du hast deine Kinder gestillt, hast zärtliche Berührungen genossen
Vielleicht kannst du morgen nicht mehr laufen
aber du hast heute noch einen langen Spaziergang gemacht
Bist sogar zur Bahn gesprintet
Vielleicht verlierst du morgen einen lieben Menschen
aber du hast ihm heute mit Wärme in die Augen geschaut
Noch ein intensives Gespräch mit ihm geführt
Ihm einen tröstenden Brief geschrieben

Die große Lebensfreude, die Intensität, mit der ich vieles wahrnehme, und auch die Sehnsucht nach Harmonie und Frieden erwachsen aus dem Bewusstsein der Vergänglichkeit.
Ich wünsche mir, mein Leben so zu leben, dass ich am Ende sagen kann:

Ja, so kann ich mit gutem Gefühl in Frieden gehen.

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