Wehmut

Joseph von Eichendorff

Ich kann wohl manchmal singen,
als ob ich fröhlich sei,
doch heimlich Tränen dringen,
da wird das Herz mir frei.

Es lassen Nachtigallen,
spielt draußen Frühlingsluft,
der Sehnsucht Lied erschallen
aus ihres Kerkers Gruft.

Da lauschen alle Herzen,
und alles ist erfreut,
doch keiner fühlt die Schmerzen,
im Lied das tiefe Leid

Niemand kennt des Sängers tiefstes verborgenes Inneres.
Keiner ahnt hinter dem schönen Klang die Trauer, die Sehnsucht und das Leid, dieses Mal nicht nur Liebesleid, sondern echter Schmerz, verborgen und abgrundtief, kein allseits vernehmbares Gejammer, sondern stille, einsame Qual.

Was registriert der Lauschende
Erlebt er eine Intensität der Gefühle wie sonst nie
oder lässt er sich nur berieseln
Will er aus seinem eigenen belastenden Alltag fliehen in die vermeintlich heile Welt der Kunst
„In eine bessre Welt entrückt“ werden
Soll Kunst unterhalten, soll sie beglücken
oder soll sie aufrütteln
Soll der Kunstschaffende das Leid der Welt abbilden und transportieren
Möchte der Zuhörer in der Kunst Abgründe erfahren, die ihm in seinem eigenen bequemen Leben nicht begegnen
Ist das Schöne überhaupt Kunst oder nur oberflächlicher Kitsch
Ist nur das Traurige, das Tragische tief
Aber ist es nicht viel schwerer, Heiterkeit zu verbreiten
Fröhlichkeit auszustrahlen, wenn das Herz bricht
Der Clown, der unter seiner Maske weint

Ein berühmter Sänger sprach von den Tränen in der Stimme. Wie überträgt sich die Tiefe der Empfindung? Eine nicht fassbare Färbung, eine nicht messbare Frequenz bewirkt beim empfänglichen Zuhörer den ersehnten Schauer, die Gänsehaut, das gewisse Etwas, nicht erklärbar, nicht greifbar, wie der besondere Ton der Geigen von Stradivari, ein Klang, der eine nie gekannte Welt zu eröffnen vermag, der Tränen fließen lässt.
Die augenblickliche Verfassung des Künstlers ist dabei völlig unerheblich. Es interessiert den Zuhörer nicht, ob es dem Ausführenden auf der Bühne schlecht geht. Das Publikum möchte nicht damit konfrontiert werden, dass der Künstler in oder an seinem privaten Leben leidet – wichtig ist das, was er erlebt und bewältigt hat, eine professionelle Distanz zu den Erfahrungen, die künstlerische Überhöhung des Kummers. Nicht Lamentieren über private Sorgen, sondern kreativ aufgearbeitete Seelenqual ist gefragt.

Einen solchen magischen Moment zu erleben, in welchem etwas geschieht, das sich der rationalen Wahrnehmung entzieht, Sternstunden für Ausübende und Zuhörer, dafür leben wir Künstler.

Konzertreise nach Rom im Herbst 2009
Erfüllte Tage
Intensive Begegnungen
Im Chor so viele wunderschöne Frauen
Mit grauen Haaren und Lachfältchen
Kämpfen nicht gegen das Älterwerden
Frauen, die wirklich die Bezeichnung „tolle Frau“ verdienen
Der Dirigent und seine Frau
Ein wunderbares Paar
Mit fast jedem aus dem Chor habe ich mich unterhalten
Beim Essen, im Bus, auf dem Weg zu Besichtigungen
Echte Herzlichkeit und Fröhlichkeit
Gute Gespräche
Vertrautheit

Am Ende dieser intensiven Reise eine Abendandacht
Santa Maria dell’anima
Verborgen in einer Seitenstraße
Ein Gebäude, so prächtig, dass es in anderen Städten zum Wallfahrtsort würde
Hier nur einer von unendlich vielen Prachtbauten
Zwei Straßen weiter kann uns niemand sagen, wo man die Kirche findet.
Zum Abschluss des Gottesdienstes das Ave Maria von Caccini
Ja ich weiß
Das Werk ist gar nicht von Caccini
In den 1970er Jahren von einem Russen geschrieben
Auf das Mindeste reduziert
Nur drei Worte:
„Ave Maria, Amen“ 
Quintfallsequenzen – Schlicht, aber wirkungsvoll
So oft, wenn ich Musik höre und denke: Oh, wie schön,
handelt es sich gerade um fallende Quinten.
Lang gehaltene Töne
Kaum als Melodie zu bezeichnen

Auf der winzigen, verborgenen Empor kann ich gerade eben stehen
Sehe niemanden und werde von niemandem gesehen
Über mir das reich verzierte Gewölbe
Vor mir die Säulen und Bögen der Kirche
Vom ersten Ton meines Vortrages an geschieht etwas
Meine Stimme verbindet sich mit meiner Seele
Mit der Kirche
Mit den Menschen des Chores
Mit meinem ganzen Leben
Jeder Ton ist wie ein Gebet
Wie eine Botschaft des Himmels
Da capo
Ich verziere die Melodie
Die Varianten hatte ich morgens beim Erwachen plötzlich im Kopf
Jetzt singe ich sie zum ersten Mal
Die Umspielungen nehmen die Harmonien auf
Reichern die schlichte Grundmelodie an
Gegen Ende schwingt sich meine Stimme in die Höhe
Füllt den gesamten Kirchenraum
Klar und warm, voll und tief
Beim Amen zittern mir die Knie
Alles habe ich gegeben
Mich ganz entblöß

Meine Seele von innen nach außen gekehrt
Nie war meine Stimme so frei, so rein wie in diesem Moment
Vier Minuten, die mein Leben verändern

Wie soll ich da wieder herausfinden
Der Organist flüstert „danke“
In der Kirche ist es still
Niemand bewegt sich

Jetzt kann ich auf keinen Fall von der Empore herunter gehen
In der atemlosen Stille wage ich kaum, mich zu bewegen
Hoffe, dass alle gegangen sind
Nach endlosen Minuten schleiche ich die Treppe hinunter
Niemand hat sich bewegt
Die sechs Priester sollten während meines Gesanges aus der Kirche ausziehen
Sie sind stehen geblieben, um zu lauschen.
Die Sänger und Sängerinnen sitzen noch auf ihren Plätzen
Nackt und bloß muss ich durch den Chor gehen
Der Erste kommt auf mich zu und drückt mich wortlos
Mit Tränen in den Augen umarmt mich eine Altistin
Nie wieder werde ich einen solchen Moment erleben
So ein intensives gemeinsames Erlebnis
Nur in dieser Konstellation möglich
Mit diesen wunderbaren Menschen
In dieser einzigartigen Kirche
Auf dieser besonderen Reise
Der Dirigent wird später formulieren:
„Julia kann verzaubern – in Rom hat sie ein Ave Maria gesungen, da hat der ganze Chor weiche Knie bekommen, und alle wollten sie heiraten.“
In diesem Moment tut er das Einzige, was mir aus dieser magischen Stimmung heraus hilft
Nimmt mich fest in den Arm
„Du blöde Kuh!“
Das löst die unerträgliche Spannung in Gelächter auf

Alle möchten diesen Moment noch einmal erleben
Gleich am nächsten Morgen im Gottesdienst
Ich bin vollkommen überfordert
Die Erwartungen sind so hoch
Niemals kann ich dem gerecht werden
Nicht vorsätzlich eine solche Stimmung erzeugen
Vom ersten bis zum letzten Ton zittern mir die Knie
Wohl auch die Stimme
Niemand beschwert sich
Aber ich komme mir wie ein Scharlatan vor
Jeder muss doch merken, dass ich gar nicht singen kann
Eigentlich konnte ich es noch nie
Und nun werde ich es erst recht nie wieder können

Jemand hat den magischen Moment aufgenommen
Die Aufnahme bewahrt einen kleinen Abglanz
Wochenlang hören die Teilnehmer der Reise das Ave Maria
Der Dirigent komponiert ein sehr emotionales Stück für mich und den Chor
Als Erinnerung an eine wundervolle Reise

Drei Wochen später ein krasser Absturz
Die größte Blamage meines Lebens
C-moll-Messe von Mozart
Die schönste Arie der gesamten Musikliteratur
„Et incarnatus est“
In meinem Inneren höre ich sie weich und klar
Zart und mit den Instrumenten verschmelzend
Mein großer Traum
Dreimal bisher gesungen
Einmal im jugendlichen Leichtsinn völlig unreflektiert
Nach dem zweiten Konzert ein „Lob“
„So viele Farben – einige Töne klangen fast wie geschrien“
Ernsthaft als Kompliment gemeint
Drittes Konzert
„Wenn man die Augen schließt, ist es traumhaft schön
Aber man kann dich nicht anschauen“
Bei jedem hohen Ton der Kopf schief gelegt
Das Gesicht verzogen
Nun möchte ich schön klingen und schön aussehen

Zehn Monate Zeit zum Üben
Ich will es unbedingt schaffen
Bisweilen scheint die Partie erreichbar
Dann ist es wieder zum Verzweifeln
Meine Stimme ist in der Höhe nicht leicht genug
Ein einziger guter Tag im Sommer
Ich nehme die Klavierbegleitung auf
Begleite mich selbst
Aber danach kann ich die Arie nie wieder ohne Pause durchsingen

Der Konzerttermin rückt näher
Erfolgreich blende ich die Realität aus
Werde immer verbohrter
Es muss einfach klappen
Ich habe doch so geübt

Generalprobe
Hoffnung auf ein Wunder
Auf eine Sternstunde wie drei Wochen zuvor in Rom
Aber es wird ein Desaster
„Julia – Incarnatus!“
Mir sackt das Herz in die Hose
Das herrliche Vorspiel
Beim ersten Einsatz rutsche ich in die falsche Schiene
Schon das erste a‘‘ muss ich drücken
Die Arie ist lang
Zehn endlose Minuten
Ich kämpfe einen fürchterlichen, aussichtslosen Kampf
Jedes a‘‘, jedes b‘‘ ist ein Kraftakt
Das eine c‘‘‘ kommt gar nicht, das andere drücke ich mit Gewalt heraus
Das Schweigen danach ist grauenhaft

Die Oboistin spricht es aus
So kann man das nicht machen
Das ist viel zu laut
Man hört die Instrumente überhaupt nicht mehr
Ein zweiter Versuch in kleineren Abschnitten
Es wird immer schlimmer
Wie in Trance setze ich mich wieder
Ohne ein weiteres Wort setzt der Dirigent die Probe fort

Ich bitte die zweite Sopranistin, die Arie im Konzert zu singen
Großherzig sagt sie zu
Aber das nützt nichts
In den Ensembles sind mehr als genug hohe Passagen
Jeden höheren Ton drücke ich mit schräg gelegtem Kopf
Das Gesicht zu einer Fratze verzerrt
Der Fehler rutscht immer tiefer
Am Ende geht nicht einmal mehr ein f‘‘, ohne dass sich mein Kehlkopf unter die Schädeldecke presst

Freunde und Schüler sind gekommen, mich mit dieser herrlichen Partie zu hören
Meine Tochter hat einen Blumenstrauß mitgeschmuggelt
„Mama, die haben sich die Ohren zugehalten!“
Der Dirigent ist wie versteinert
Der Chor singt schlecht
Der ganze Abend wird ein Fiasko
Nur die 92jährige Lehrerin meines Vaters ist überglücklich und dankbar
Seit Jahrzehnten hat sie kein Konzert mehr besucht
So etwas Schönes schon lange nicht mehr erlebt
Das kann kein Trost sein

Man weicht mir aus
ch stehe unter Schock
Kann niemandem ins Auge blicken
Höre, wie jemand lästert, ich hätte für meine schlechte Leistung sogar noch Applaus bekommen
Der Umschlag mit meiner Gage ist geöffnet
Einen Teil hat die zweite Sopranistin bekommen, die nun den größeren Part zu singen hatte
Mit unbewegter Miene verabschiedet sich der Dirigent
Ohne Kommentar
In dieser Kirche werde ich nie wieder singen

30 Orchestermusiker, 70 Chorsänger, 400 Zuhörer
Zeugen meines Misserfolges
Jeder kennt jeden in der Musikwelt
Der peinliche Auftritt spricht sich viel schneller herum als das berückende Ave Maria
Die kommenden Monate sind ein Spießrutenlauf
Ich gehe in die Offensive
Berichte selbst
Streue Asche auf mein Haupt
Es hilft nicht 
Teils begegnet man mir mit Mitgefühl
Aber meistens weicht man mir aus

Am liebsten würde ich nie wieder auftreten
Völlig überfordert mit der schnellen Abfolge des schönsten und des peinlichsten Auftrittes meines Sängerlebens
So schnell ist das Wunder von Rom erledigt
Der magischen Augenblick
Die Verbundenheit mit Gott und der Welt in Santa Maria dell’anima
Das Gefühl des totalen Versagens übersteigt alles

Wie konnte ich mich 20 Jahre lang in der Konzertszene behaupten
Das ist mir ein Rätsel
Ich habe doch noch nie gut gesungen
Mich nur erfolgreich durchgemogelt
Meine Höhe war nie sicher
Die Stimme immer schrill

Nun bin ich 44 Jahre alt
Ich sollte aufhören aufzutreten
Niemand will mich jetzt noch hören

Aber ich bin eine Kämpferin
Fange ganz von vorn an
Schmerzvolle, arbeitsame Jahre
Psychotherapie, Homöopathie, Akupunktur
Alexandertechnik und Feldenkrais, Atlas einrenken
Meine Stimme komplett neu erfinden
Grenzen erkennen
Repertoire umstellen
Ich muss nicht jedes Konzertangebot annehmen
Nicht jedes Stück irgendwie hinbekommen

Wo ist meine Nische?
Stimmqualität und Schönklang
Musikalität und Ausdrucksfähigkeit
Klarheit und Wärme
Die Menschen berühren mit meinem Gesang
„Wenn man dich singen hört, kommt man dir näher“
„Ein Klang wie eine Stradivari“
„Du könntest einen Atheisten zum Glauben bekehren“
„Wenn ich in den Himmel komme, soll diese Stimme mitkommen“

Der Weg ist schmerzlich
Arbeit an Körper, Geist und Seele
Alte Muster ablegen
Leben lernen
Das hört nie auf
Darf nie aufhören
Aber genau so soll es sein

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