Seit ich ihn gesehen

Seit ich ihn gesehen,
Glaub‘ ich blind zu sein;
Wo ich hin nur blicke,
Seh‘ ich ihn allein;
Wie im wachen Traume
Schwebt sein Bild mir vor,
Taucht aus tiefstem Dunkel,
Heller nur empor.

Sonst ist licht- und farblos
Alles um mich her,
Nach der Schwestern Spiele
Nicht begehr‘ ich mehr,
Möchte lieber weinen,
Still im Kämmerlein;
Seit ich ihn gesehen,
Glaub‘ ich blind zu sein.

Wie nähert man sich einem Lied?

In der Schule haben wir gelernt, Lieder zu analysieren: Den Text abschreiben, die Form des Gedichtes und Reimschemata erkennen und benennen, sprachliche Stilmittel erwähnen, den Inhalt zusammenfassen, Symbolik und tiefere Bedeutung finden, die Vertonung mit dem Gedicht vergleichen, Tonart, Harmonik, Takt und Rhythmus, Dynamik, Tonumfang, Melodie und Klavierbegleitung untersuchen, Motivik, Aufbau, Form, Strophenlied – variierte Strophenform – durchkomponiertes Lied.

Diese rein verstandesmäßige Auseinandersetzung mit Text und Musik ist todlangweilig für Nicht-Musikwissenschaftler.

Als Interpret gilt es, Noten zu lernen, stimmliche Hürden zu kennen und zu bewältigen, sinnvolle Atemzeichen zu setzen, auf Intonation, Phrasierung, richtige Wortbetonung und deutliche Aussprache zu achten. Das ist eine Annäherung, die wiederum nur den Sänger selbst (oder seinen Gesanglehrer) interessieren darf.

Man kann sich mit Dichtern und Komponisten befassen, Lebensläufe und Zeitgeschichte erkunden, unterschiedliche Vertonungen desselben Textes und Interpretationen vergleichen.

All das ist richtig und wichtig, aber es beglückt auf intellektueller Ebene, es trifft nicht das, was Musik ausmacht.

Für das Publikum sind alle Gedanken des Interpreten über Hintergründe und technische Hindernisse uninteressant, die muss der Künstler überwinden, wenn er auf der Bühne steht und das Publikum dazu bringen, ebenfalls alles um sich herum zu vergessen.

Der Liedgesang gilt als die höchste Stufe der Gesangskunst. Das Kunstlied erfordert Klarheit der Stimme, absolute technische Souveränität, äußerste Textverständlichkeit, feinste Nuancen und höchste klangliche Differenziertheit. Im Kunstlied wechseln Emotionen von Wort zu Wort, werden auf kleinstem Raum Welten entfaltet, Romane in wenigen Sätzen komprimiert. Der Text wird nicht wie in Arien ständig wiederholt, sondern es gibt nur eine Chance, dem Zuhörer den Inhalt eines Liedes zu vermitteln.

Der Sänger kann sich nicht hinter Lautstärke, hohen Tönen oder schnellen Koloraturen verstecken. Vor allem geht es um die „Tiefe des Ausdrucks“, um die Ausleuchtung jeder Silbe, die Auslotung der Bedeutung jedes einzelnen Satzes.

Wer sich einen Liederabend anhört, erwartet einen reifen Künstler, nicht eine artistische Demonstration oder ein Feuerwerk von Effekten. Das Publikum, das sich auf diese subtile Kunstform einlässt, will in seinem tiefsten Inneren berührt werden, nicht über zirkusartige Höchstleistungen staunen.

Ich suche also nach dem, was ich in mir, in meinem Leben finde, wenn ich mich mit diesen Liedern und mit ihren Texten beschäftige.

Der Zyklus „Frauenliebe und –leben“ beginnt mit einer kopflosen, unvermuteten Schwärmerei, Liebe auf den ersten Blick. Was bislang wichtig war, zählt plötzlich nicht mehr, alles dreht sich nur um die eine, begehrte Person –
Wieso dieser Eine und Einzige? Was projizierst du in das Objekt deines Begehrens hinein, das du doch noch gar nicht kennst, welche Eigenschaften erhoffst du dir von ihm, noch aus der Ferne, überschwänglich und zurückhaltend, hoffend und ängstlich zugleich.
Liebe schwärmt auf allen Wegen, Treue wohnt für sich allein, himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt, unberechenbare Stimmungsschwankungen, Lachen und Weinen zu jeglicher Stunde. Herz und Schmerz, Freud und Leid, „Il pleure dans mon coeur“ und „douleur“, „amore, dolore“ und „core“ – wie schön, dass sich das in vielen Sprachen reimt, so gibt es immer wieder Material für Gedichte. Frühmorgens hochschrecken mit Herzklopfen, Kopfkino und Tagträume, die große Liebe, wie beginnt das alles?

Schon als kleines Mädchen lebte ich in einer Traumwelt. In der ersten Klasse war ein Junge mit entrücktem Blick der Prinz meiner selbst erzählten Gute- Nacht-Geschichten. Ich war die Prinzessin, die von ihm aus großer Not gerettet und auf einem geschmückten Schimmel in sein prächtiges Schloss gebracht wurde, um dort in einem Kleid aus Samt und Seide, mit langem Schleier und mit kostbarem Geschmeide geschmückt ein prunkvolles Hochzeitsfest zu feiern. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Zur Feier meines 7. Geburtstages lud ich meinen Angebeteten ein. Ich bearbeitete meine Mutter, dass wir tanzen und es Damenwahl geben müsste, und überglücklich rangelte ich mit meinem Favoriten herum – als Tanz war das vermutlich nicht zu bezeichnen.
Auf dem Gymnasium wurden die beliebtesten Jungen der Klasse in „Liebestabellen“ eingeordnet, da gab es eine klare, grausame Rangfolge. Der große, sportliche, dunkel gelockte Nico galt unangefochten als die Nummer Eins, gefolgt vom verschlafenen Jan, dem die langen Haare ins Gesicht fielen. Andreas war zwar klein und trug eine Brille, aber er hatte warme dunkle Augen, das sicherte ihm noch einen Platz auf dem Podest. Platz vier belegte Christoph, leicht pummelig, aber fröhlich, und der letzte, der noch den Sprung in die Tabelle schaffte, war der nette Gunnar, alle anderen waren indiskutabel.

Als Teenager war ich unsterblich verliebt in einen Jungen, der Geige spielte. Er war zwei Klassen über mir, irgendwie erinnerte er mich mit seinem glasigen Blick an meine erste große Liebe aus der Grundschule. Jahrelang verfolgte ich ihn. In Konzerten des Jungendorchesters saß ich in der ersten Reihe, ohne wirklich zuzuhören, ich machte Seinen Stundenplan ausfindig, um Ihm auf dem Weg zu den Fachräumen zu begegnen, bis er in der Schule kaum noch zu sehen war, weil er in den Pausen untertauchte auf der Flucht vor seiner Verfolgerin. Ich rief an und legte auf, wenn sich jemand meldete, ging vor seiner Haustür auf und ab, um schnellstens wegzuhuschen, wenn sich dort etwas bewegte.
Einmal übernachtete ich bei einer Freundin und wir spazierten nachts um ein Uhr durch Seine Straße, da erwischte uns eine Polizeistreife – eine Flucht war natürlich vergeblich, mit hochroten Köpfen saßen wir im Polizeiwagen, unsere gefälschten Schülerausweise vorzeigend, in welchen wir uns als 16-jährige ausgaben. Wir behaupteten, auf einer Party im Haus meines Schwarmes gewesen zu sein – „Ach, bei Rechtsanwalt T.?“ – das war ziemlich peinlich. Über den Polizeifunk erkundigte man sich, ob etwas gegen uns vorläge, dann brachte man uns zu der Freundin nach Hause und folgte uns durch Garten und Keller in ihr Zimmer, wo sie ihre Identität mit ihrer HVV-Monatskarte nachwies.
Natürlich hatte ich nie Erfolg bei meinem Schwarm, ich hatte auch gar keine klare Vorstellung, was ich wirklich von ihm wollte – das Träumen allein reichte mir schon.
Ein Gutes hatte die Geschichte: Ich verdanke es diesen Jahren, dass ich Zugang zur Musik fand – Seinetwegen besuchte ich Konzerte in der Schule und in der Musikhalle, ich übte Geige wie noch nie, um in das Albert-Schweitzer- Jugendorchester aufgenommen zu werden.
Hinten in der zweiten Geige konnte ich die ersten Schritte aufstrebender Talente miterleben. Erst viele Jahre später merkte ich, dass ich in einer legendären Zeit Teil dieses Ensembles sein durfte – viele der Musiker, die damals mit mir im Orchester saßen, haben große Karrieren gemacht und meine Maßstäbe und Ansprüche in Bezug auf allerhöchste Qualität geprägt.

Die Liebe als Antrieb für den Weg ins Rampenlicht – wie viele Leistungen, ob kultureller, intellektueller oder sportlicher Art sind von der Sehnsucht nach Liebe beflügelt, wie viele Interessengebiete erschließt du dir, weil du scharf auf jemanden bist?
Tanzt du, fängst du an zu segeln oder Berge zu besteigen, um dem Angebeteten nahe zu sein, oder hast du selbst ein interessantes Hobby, besondere Fähigkeiten oder einen spannenden Beruf, der attraktiv macht, an dessen Nervenkitzel die Verehrer Teil haben möchten?

Begeistert verlor ich mich immer wieder in aussichtslosen Schwärmereien, ob es der wunderbare Balletttänzer war, der berühmte Schauspieler, der attraktive Chorleiter oder gar eine Romanfigur.
Ich ging dreimal wöchentlich in die Oper und in Proben des NDR-Sinfonieorchesters, schwelgte in Büchern oder Kinofilmen – es war so herrlich, sich ein Bild zu machen und dieses anzubeten, das musste der Überprüfung durch die Realität nicht standhalten. Das Herzklopfen hörte nie auf, der Umschwärmte erfüllte alle Eigenschaften, die ich mir von meinem Traummann erhoffte.
Er war zärtlich ohne zu drängen oder feurig und stürmisch, je nach meiner Laune, er war einfühlsam, aber nicht unmännlich, sein Bart kratzte nicht und er roch nicht nach Schweiß, er war gerade so behaart wie es mir angenehm war, er bekam keinen Bauch und keine Glatze und er ließ seine Strümpfe nicht herumliegen. Mein Held trug mich auf Händen. Er bewunderte mich vorbehaltlos und machte mir unermüdlich Komplimente, für ihn war ich die attraktivste, fesselndste Frau, die er je getroffen hatte, alle Frauen, die er vor mir gekannt hatte und denen er je begegnen würde, verblassten gegen meine faszinierende Ausstrahlung. Er interessierte sich für alles, was mich beschäftigte, hörte meinen Monologen stundenlang zu oder genoss es, zusammen mit mir zu schweigen. Wenn er berichtete, war es spannend und abenteuerlich, er forderte nichts, widersprach nicht, fügte sich jedem meiner Wünsche oder hatte selbst wunderbare Einfälle, mich zu beglücken. Er selbst war perfekt, aber er kritisierte mich nicht und verzieh mir alle Fehler, unter seinem liebevollen Blick fühlte ich mich begehrenswert, interessant und eloquent. Mein Held blieb immer jung und knackig, aber an mir würde er jedes graue Haar und jede Runzel lieben. Ich erfreute mich an seiner Nähe, aber wenn ich meine Ruhe brauchte, dachte ich einfach an etwas oder jemand Anderes –
Ach, man kann sich lange an seine Phantasien klammern, bevor man sich auf einen echten Menschen mit echten Eigenschaften, auch unbequemen, einlässt!

Seit ich ihn gesehen, glaub ich, blind zu sein – blind für den Rest der Welt, für alle Anderen und alles Andere, blind für die Abgründe des Lebens und für das Dunkle, blind auch für die Schwächen und die Schattenseiten des Angebeteten. Wie herrlich ist diese Illusion, dieses vollkommene, ungetrübte Glück, diese naive Träumerei – das Erwachen kommt früh genug. Aber die junge Sängerin genießt erst einmal ihren Höhenflug, hoffen wir für sie, dass ihre Träume sich erfüllen mögen!

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