Roller-Margret

Man hätte sie für eine Pennerin halten können, die alte, etwas gebeugte Frau mit grauen, zum Knoten gebundenen Haaren, ausgetretenen Schuhen und Kleidern aus der Altkleidersammlung. Mit ihrem Roller war sie in den Achtziger Jahren auf dem Uni-Campus unterwegs, an den Griffen ihres Gefährtes zahlreiche Plastiktüten.
Die kleine Person war aber alles andere als verwahrlost – Roller-Margret stand mitten im Leben. Sie war kontaktfreudig und geradlinig, heutzutage würde man sie als „authentisch“ bezeichnen. Margret machte sich um vieles Gedanken, und sie verfolgte ihren Weg konsequent und kämpferisch.
Mir fiel sie auf, als ich an einem Stand mit gebrauchten Büchern stöberte. Dort unterhielt sie sich mit dem Verkäufer, während vorbeikommende Studenten sie fröhlich grüßten: Hallo Margret!
Ich belauschte neugierig, wie sie stolz berichtete, sie habe Psychologie und Biologie studiert, und nun habe sie begriffen, was das Wichtigste im Leben sei: Selbstbefriedigung!
Mir entfuhr ein nicht zu überhörendes Prusten, daraufhin wandte sich die Frau mir zu und sah mich direkt an, mit klarem Blick aus faszinierenden Augen, von denen eines grün, das andere braun war.
„Du bist unsicher!“, sagte sie mir auf den Kopf zu.

Einige Zeit später traf ich Margret in der Mönckebergstraße. Sie stöberte in den Abfallbehältern, sortierte Papier, Glas und Metall und verstaute das, was sie für verwertbar hielt, in ihren Plastiktüten, um es später getrennt zu entsorgen, was 1985 sehr ungewöhnlich war.
Wir kamen ins Gespräch, und Margret berichtete, dass sie zur Zeit im Stadtpark unter freiem Himmel schlafe. Sie schwärmte vom Sternenhimmel und von der kühlen Nachtluft. Sie beschrieb, wie sie dem Knacken und Rascheln um sie herum und dem frühen Erwachen der Vögel lauschte, und sie nahm wahr, wie sich das Schwarz des nächtlichen Himmels über der weiten Wiese unmerklich erhellte.
Während sie erzählte, suchte sie aus dem Mülleimer alles heraus, was für sie als Mahlzeit verwertbar war – angebissene Sandwiches, eine zerdrückte Banane und abgekaute Apfelgripsche, die sie bis auf den Stiel zu Ende aß. Aus diversen Flaschen und Dosen schüttete sie Bier, Cola oder Saft in einen leeren Papp-Eisbecher. Mit dem Finger strich sie die Eisreste vom Becherrand in ihren Cocktail, den sie dann genüsslich trank, dabei hatte sie mich wachsam im Blick, als wollte sie beobachten, wie ich auf ihr Tun reagierte.
Empört erzählte Margret, vor ein paar Tagen habe jemand ihr EINE MARK zugesteckt! „Ich nehme keine Almosen!“ – So viel Stolz sprach aus ihrer Stimme, das Kinn emporgereckt, das grüne und das braune Auge fest auf mich gerichtet, und wieder fühlte ich mich einem Test unterzogen, den ich aber bestand, indem ich ihr versicherte, dass ich sie gewiss nicht für eine Bettlerin hielte.

Danach habe ich Roller-Margret nicht wieder gesehen, aber diese Frau, die so intensiv lebte und dabei ihrer Zeit weit voraus war, hat mich nachhaltig beeindruckt.

Bei meinen Recherchen im Internet stieß ich auf dieses Photo von Gerald Sagorski, auf welchem er „Roller Margret“ während einer Brokdorf-Demonstration sehr trefflich erfasst hat.
Herr Sagorski hat mir freundlicherweise erlaubt, sein wunderbares Photo zu verwenden und bringt damit einen besonderen Glanz in meine kleine „Hütte“. Ganz herzlichen Dank!

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