Mondnacht

Es war, als hätt‘ der Himmel,
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nur träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Überirdische Schönheit, ein magischer Moment, zum Sterben schön. Der vollendete Ausdruck des romantischen Empfindens: Natur, Nacht und selige Todessehnsucht. Die ideale Verschmelzung des himmlischen Gedichtes mit seiner traumhaften Vertonung, Poesie in ihrer höchsten Vollendung, ein Lied, das ich kaum zu singen wage vor Ehrfurcht – wie kann ich dieser ätherischen, entrückten Atmosphäre gerecht werden, die zauberhafte Stimmung wiedergeben, mich dem Augenblick der Stille und Verklärung annähern.
So müsste das Ende sein, dankbar und friedvoll nach einem erfüllten Leben.

Welche Bilder werden es sein, die kurz vor dem Tod in rascher Abfolge vor dem inneren Auge vorbeiziehen, welche berührenden Momente haben sich tief in die Seele eingeprägt?
Ganz sicher sind die Geburten der Kinder dabei – der erste Blick in die großen, klaren Augen der Tochter, die alte, reife Seele, die mir daraus entgegenblickt und so viel Klarheit und Weisheit ausstrahlt.
Der winzige, blaue Sohn, der vom ersten kräftigen Zug an der Brust an vermittelt, dass er gut für sich sorgen kann. Der kleine Mensch, der so sehr den Körperkontakt sucht, nachts dicht an mich gedrückt, hinterherrückend, sobald ich mich vermeintlich unauffällig etwas zu Seite rolle, tagsüber im Tragetuch, zehn Monate wie festgewachsen.

Und Christians Tod an meiner Hand.

Der Sohn im selbstgebastelten grünen Lendenschurz, nachdem er Lex Barker gesehen hat, der kleine zarte Kerl als Tarzan.
Die Tochter, die hinter mir tanzt, während ich Mozarts A-Moll-Sonate am Klavier spiele.
Der Sohn, der zu „Rockin‘ around the christmas tree“ durch das Zimmer wirbelt, überglücklich, „Wenn ich 18 bin, musst du mir ein schwarzes Hemd schenken, dann tanze ich im Damenclub, die Damen werden schreien!“
Der Vater, die Latschen in der Hand, wie er nach einer Reise auf dem Bahnhof auf mich zustürmt, sie durch die Luft wirbelt.
Der erste Besuch beim neuen Schwarm, die Laterne, Kerzen, Kamin und leichter Duft nach Rauch, das warme, einladende Haus.
Zum ersten Mal neben der großen Liebe aufwachen.
Caccinis Ave Maria in Rom.
Das letzte Abendmahl neben G.D., kurz vor seinem Tod.
C.s Trauerfeier, 500 Menschen weinen um eine Blockflötenlehrerin.
Das erste wahrhaft empfundene Vaterunser auf K.s Beerdigung.

Traurige Momente, bewusste oder unbedachte Verletzungen, Klarheit und Wahrheit. Versäumtes, Verpasstes und Nicht-Wieder-Gutzumachendes verliert seine Bedeutung. Befreiung von Schuldgefühlen, Frieden schließen.
Die Mutter, weinend ob der oberschlauen Tochter – „Ich hatte doch nicht die Möglichkeiten wie ihr“.
Die 92jährige Tante Lotte lehnt den Kopf an den Küchenschrank, in stummer Verzweiflung, weil sie ihre Wohnung verlassen und mit ihrem pflegebedürftigen Mann ins Heim ziehen muss.
Der 93jährige Onkel Willi begreift, dass er Weihnachten dort bleiben soll – „Ich kann nicht mit“, er kippt das eine Glas Wein, das ihm Heiligabend zusteht, hinunter, möchte sich am liebsten besaufen.
Die Freundin mit offenem Mund auf dem Boden – Du hast es geschafft.
Immer wieder die Kinder, unendlich viele glückliche und schwere Momente. Kinderfreude, Kinderleid, überschwänglicher Jubel und tiefer Schmerz, oft unmittelbar nebeneinander.
Das erste „öchö öchö“ aus dem kleinen Kehlchen, das Strahlen beim Abholen aus dem Kindergarten, Picknick am kleinen Teich, krakelige Briefchen, schnelle Tränen und Sich-trösten-lassen, Unfälle und fiebrige Nächte, Kinderhände und schmale Schultern, die viel zu viel Leid tragen, abgrundtiefe Verzweiflung und existentielle Nöte, aber auch Lachen und Lebensfreude –
Jeden Augenblick möchte ich festhalten, jede kleine Zeichnung aufhängen, jedes Photo mit mir herumtragen, sie aufnehmen beim Spielen und beim Schlafen, und ich kann die kostbaren Momente doch nur in meinem Herzen bewahren.
Vermutlich und hoffentlich zeigen sich dann längst vergessene Schätze, einmalige Augenblicke, die mir entfallen sind.

Ob viel Musik dabei ist, die Matthäuspassion, Elias oder das Brahms-Requiem, „Du, meine Seele singe“, „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ oder das „O du fröhliche“ im Michel, Bachs Es-Dur-Präludium oder „Heraus aus den Betten“ aus Kindertagen – es wird kein Wunschkonzert sein.
Der alte Garten, mein Staudenbeet, die Apfelbaumallee und die herrliche Magnolie, in deren Schatten ich meine Schwangerschaften verbrachte, in meinem gemütlichen Sessel lesend, während der Bauch immer dicker wurde.
Das Klettergerüst, das Christian noch gebaut hat, bevor er krank wurde.
Viel Hamburg – der Michel, St. Peter in Groß Borstel, die Jugendstilvillen, Backsteinbauten, Freiluftkino mit Picknick auf dem Rathausmarkt, Alsterdampfer und Elbe, der Stadtpark und der Ohlsdorfer Friedhof.

Immer wieder spontane Nähe mit Menschen
Der Obdachlose, der sich mit mir eine Steinbank teilt und mir ein Stück Schokolade anbietet, sorgsam in der Alufolie abgebrochen.
Die ältere Frau in Budapest, die uns ihre Wohnung zur Verfügung gestellt hat und in der Küche auf einen Handwerker wartet, sie spricht kein Wort Deutsch, ich kann ihre Sprache nicht verstehen, beim Abschied fallen wir uns in die Arme – „I love you!“
September 1991, Riga, Spaziergang durch einen Park mit Steinskulpturen, die nach Märchen geformt sind, eine Siebzehnjährige singt mit klarer Stimme die dazu passenden Lieder.
Turmbesteigung, der stets distanzierte G.D., der mir mit seiner rauen, stockenden Stimme ein Märchen vom Zaren Peter erzählt und sich oben angekommen abrupt abwendet, der Moment der Nähe ist vorbei.
Dezember 1991, wieder Lettland, vier Stunden Busfahrt von Riga, die alte Frau, die uns in ihrer kargen Ein-Zimmer-Wohnung mit Kuchen bewirtet. Weihnachtsoratorium in der 4° kalten Kirche, der Atem kondensiert bei jedem Ton. Der alte Mann, der mir nach einem Konzert ein selbstgebasteltes Papiertütchen mit kleinen harten Plätzchen überreicht.
Der Witwer, der seinen achtjährigen Sohn im Arm hält, während ich auf der Trauerfeier für seine Frau singe, das Baby, das vor der Kirche spazieren gefahren wird.
Die junge Frau, die mit ihrem vierjährigen Sohn an der Hand tapfer und zügig die Kirche betritt, aufrecht den Platz vor dem Sarg ihres Mannes einnimmt, den Kleinen tröstend.

Mein 50. Geburtstag – anderthalb Stunden singen für meine 140 Lieblingsmenschen, das Konzert meines Lebens, offen und freimütig kann ich von Krisen und Brüchen in meinem Leben erzählen. Und plötzlich kommt die Tochter mit zwei Freundinnen nach vorn und singt „The Rose“ – was für ein unerwartetes, überwältigendes Geschenk!

Der Segen von Adrian.

Gänsehaut bei ersten Begegnungen, Dankbarkeit für so viele liebevolle Freundschaften, einfühlsame Hilfe, unerwartete Anteilnahme, echte Wertschätzung, warme Blicke, sanfte Umarmungen, innige Verbindungen.
Welche Beziehungen sind wirklich in die Tiefe gegangen, wie viel Begeisterung ist verpufft, welche Freundschaften haben getragen, um welchen Verlust tut es mir leid, was habe ich verpasst, wen habe ich nicht ernst genug genommen, mit wem bin ich nicht behutsam umgegangen, vielleicht begreife ich erst in allerletzter Sekunde, was wirklich wichtig war in meinem Leben, wer mir nah war und was ich versäumt habe.

Wen werde ich überleben, von wem werde ich Abschied nehmen müssen, Eltern, Schwiegereltern, Tanten, noch ist die Generation zahlreich vertreten, aber wie oft ist die natürliche Reihenfolge schon durchbrochen worden, wie viele Kinder haben meine Freunde verloren, wie viele Einschläge gab es auch in meiner Altersstufe, nichts ist selbstverständlich, jeder gesunde Tag, jede innige Begegnung ein Geschenk.

Intensiv miterlebte Krankheiten fördern das Bewusstsein, dass unser Leben endlich ist, dass jeder Augenblick der letzte sein kann, den wir in Gesundheit und Frieden leben. Das Leben kann sich in jedem Augenblick, ohne Vorwarnung komplett ändern. Dadurch ist das Leben unendlich kostbar, ist jeder Tag mit großer Dankbarkeit für die gesunden Kinder, für jede Begegnung, für jeden glücklichen Moment erfüllt.
Mir ist so vieles geschenkt worden, ich habe unendlich Vieles, wofür ich dankbar sein kann. Was ich jetzt zu schätzen weiß, kann mir später niemand nehmen, ich muss nicht bereuen, dass ich mich nicht genug gefreut habe.
Ich wünsche mir, dass mir diese Intensität so lange wie möglich erhalten bleibt und dass ich so viel wie möglich davon weitergeben kann.

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