24. Februar 2023
Mein Patenonkel Peter hat mich als Kind mit Geschenken bedacht, die ihre volle Wirkung auch viel später noch entfaltet haben. Literarisch interessiert, war er offenbar auch auf dem Gebiet der Kinderliteratur bewandert, denn er schickte mir druckfrisch das 1974 geschriebene Buch „Momo“ von Michael Ende.
Die Kerbe, die „Time“ von Pink Floyd geschlagen hatte, wurde durch Momo vertieft.
Anfang der 70er Jahre wurde ich also geprägt durch Texte, die mir verdeutlichten, wie kostbar unsere Lebenszeit, im Fall von Momo sogar jede einzelne Sekunde ist.
Thema dieses vor Phantasie und Menschlichkeit sprühenden Buches ist die Zeit und wie die Menschen damit umgehen.
Wie Pippi Langstrumpf, taucht auch Momo plötzlich auf, auch Momo ist elternlos und ohne Schulbildung, auch Momo wird davor bewahrt, in ein Kinderheim eingewiesen zu werden, in ihrem Fall kümmern sich viele Menschen um ihre Versorgung.
Momo ist ein kleines 10jähriges Mädchen, also nur wenig älter als Pippi Langstrumpf, anders als diese ist sie jedoch zart und verletzlich. Die Eigenschaften, die Momo zur Heldin machen, sind nicht Kraft, Reichtum und Humor, sondern Einfühlungsvermögen, Mut und vor allem ihre Gabe, zuzuhören.
Momo tut und sagt nichts Besonderes – sie ist einfach da und öffnet ihre Ohren und ihr Herz für Andere, und schon finden Menschen Worte, von denen sie nicht wussten, dass sie in ihnen steckten, fallen Kindern die herrlichsten Spiele ein und versöhnen sich Streitende. Das macht Momo unentbehrlich für ihre Freunde.
Wie in einem Märchen, vergehen viele Jahre, aber Momo bleibt das kleine, zarte, zehnjährige Mädchen.
Die große Stadt, an deren Rand Momo in der Ruine eines Amphitheaters lebt, gerät in den Sog und Bann der „grauen Herren“. Diese dringen unauffällig, aber unaufhaltsam immer tiefer in das Leben der Menschen ein und verführen sie mit leeren, unhaltbaren Versprechen dazu, Zeit zu sparen. Mit der Drohung, am Ende des Lebens bleibe den Menschen nichts mehr von ihrer Zeit, drängen sie die Leute, auf alles vermeintlich Überflüssige zu verzichten und immer schneller und hektischer zu leben, um die „gesparte“ Zeit am Ende ihres Lebens „nachholen“ zu können.
Alles, was das Leben reich und lebenswert macht, geht dabei verloren, aber von der gesparten Zeit bleibt nichts übrig. Sie verschwindet einfach auf rätselhafte Weise und ist nicht mehr da.
Die Menschen können die Stille nicht mehr ertragen, „denn in der Stille überfiel sie Angst, weil sie ahnten, was in Wirklichkeit mit ihrem Leben geschah.“
Der Friseur Fusi ist „nur noch sein eigenes Gespenst“, Maurer Nicola pfuscht und baut „seelenlose Häuser“, alles wird teurer und die Welt kommt ihm kalt vor, aber „alle machen’s doch heute so. Warum soll ich allein es anders machen?“
In einem Text von Nils Minkmar, den ich viele Jahre später entdeckte, heißt es:
„Es ist unfassbar, wie viel Zeit wir haben. Wir leben jeden Tag so, wie sich die Menschen vor uns das Paradies vorgestellt haben: Die Beschaffung von Kleidung, Nahrung, Wärme und Wasser erfordert kaum noch unsere Aufmerksamkeit. Einige Fingerzüge auf einer Glasscheibe, und kurze Zeit später wird mir, wo immer ich bin, eine Mahlzeit serviert. Wir können mit Menschen sprechen, die sich auf der anderen Seite der Erde befinden, kostenlos. Und nahezu jede Frage des praktischen Lebens per Internetrecherche klären, ohne uns auch nur erheben zu müssen.“
Man könnte ergänzen: Wir können in kürzester Zeit mit dem Auto, der Bahn oder dem Flugzeug Strecken zurücklegen, für die frühere Generationen Wochen oder Monate benötigt haben. Und doch hat uns all diese „Zeitersparnis“ nicht zu ausgeglichenen, zufriedenen, friedlichen Menschen gemacht.
Auch Kinder werden vom Sog des Konsums mitgerissen.
Michael Ende lässt den Leser am Anfang seines Buches tief eintauchen in eine phantasievolle Spielszene der Kinder um Momo, die im Inneren eines verheerenden Tropensturmes ein einzigartiges „Schumschumgummilastikum“ entdecken und es zerstören, um die Menschen fortan vor den schrecklichen Verwüstungen des Sturmes zu bewahren. Für dieses spannende Abenteuer benötigen die Kinder fast keine Requisiten, und sogar ein Gewitter wird eingebaut, ohne dass sich jemand fürchtet oder Angst hat, nass zu werden.
Im späteren Verlauf bekommen Kinder Schallplatten, statt dass man ihnen vorliest. Sie werden mit Spielzeug überschüttet, das jeweils nur eine einzige Funktion hat, und wenn diese ausgereizt ist, brauchen sie neue Reize, sprich, neue Spielsachen.
Mein Sohn hat aus Kisten von Legosteinen Stunden um Stunden kleine und größere Steine aller Formen, Farben und Größen herausgelesen, um die phantastischsten Gebäude oder Fahrzeuge zu bauen. Inzwischen gibt es fast nur noch Packungen, in welchen gewaltige Gebilde unterschiedlicher Themenbereiche, zumeist bekannt aus Film und Fernsehen, gebaut werden können, da darf dann aber kein Stein verloren gehen. Wenn man aus einer einzigen Packung drei unterschiedliche Modelle bauen kann, wird das besonders hervorgehoben.
Einer der Grauen Herren versucht, Momo eine Puppe zu schenken. „Bibigirl, die vollkommene Puppe“, kann sprechen – allerdings wiederholt sie nur die immergleichen Sätze, die in den Wunsch münden: „Ich möchte noch mehr Sachen haben.“ Der Graue Herr versucht, Momo davon zu überzeugen, dass man sich nie langweilen müsse, wenn man immer und immer mehr Sachen habe.
Momo bemüht sich, mit der Puppe zu spielen, aber sie stellt fest: „Man kann sie nicht liebhaben“ –
damit kann der graue Herr gar nichts anfangen: „Das einzige, worauf es im Leben ankommt, ist, dass man es zu etwas bringt, dass man was wird, dass man was hat.“
In ihrer aufrichtigen Art stürzt sich Momo mit all ihrer Kraft „in die Dunkelheit und Leere, hinter der der graue Herr sich verbarg“ und fragt ihn: „Hat dich denn niemand lieb?“
Damit brechen alle Dämme, und der Mann verrät ihr die Strategie der grauen Herren. Momo wird dadurch für diese zu einer Bedrohung.
Sie wird von der Schildkröte Kassiopeia zu „Meister Hora“ gebracht, dem Herrn über die Zeit der Menschen. In einem Märchen würde man Meister Hora wohl als Gott bezeichnen. Zu ihm kommen die Menschen normalerweise nur, wenn die ihnen zugeteilte Zeit abgelaufen ist.
Momo gelangt durch Meister Hora in ihr Inneres. Sie lernt: „Zeit ist Leben und das Leben wohnt im Herzen.“
Im Inneren ihres Herzens erlebt Momo, wie jede Stunde als einmalig schöne Blume erblüht, und unter Schmerzen beobachtet sie, wie diese verwelkt, aber sofort entsteht eine neue Blüte, noch schöner und reicher als die vorherige.
Beim Enträtseln eines Gedichtes begreift Momo die Flüchtigkeit des Augenblicks, und auch mir als junger Leserin wurde begreiflich gemacht, dass es die Gegenwart gar nicht gibt: In jedem Moment verwandelt sich die Zukunft in Vergangenheit, indem sie die Gegenwart nur ganz kurz durchläuft.
Die wirkliche Zeit ist nicht nach der Uhr oder nach dem Kalender zu messen.
„Alle Zeit, die nicht mit dem Herzen wahrgenommen wird, ist so verloren wie die Farben eines Regenbogens für einen Blinden oder das Lied eines Vogels für einen Tauben.“
Was die Menschen mit ihrer Zeit machen, darüber müssen sie selbst bestimmen.
Das war für mich als Kind wie eine kleine Erleuchtung.
Momo rettet die Welt, indem sie die grauen Männer besiegt, und plötzlich haben alle Menschen wieder unendlich viel Zeit.
Meister Hora gibt Momo zum Abschied den wunderbaren Satz mit:
„Wir werden uns wiedersehen, und bis dahin wird jede Stunde deines Lebens dir einen Gruß von mir bringen.“
Liebe Eltern und Großeltern, bitte nehmt Euch die Zeit und lest Euren Kindern oder Enkeln „Momo“ vor!