Intermezzo

27. Mai 2025

Joseph von Eichendorff

Dein Bildnis wunderselig
hab ich im Herzensgrund,
das sieht so frisch und fröhlich
mich an zu jeder Stund‘.

Mein Herz still in sich singet
ein altes schönes Lied,
das in die Luft sich schwinget
und zu dir eilig zieht.

Ein geliebter Mensch ist in der Ferne, aber ein Lied, tief im Herzen empfunden, soll ihm gute Gedanken und Wünsche bringen.

Im Anschluss an das Referendariat tritt Christian 1995 seine erste Anstellung an einem Gymnasium an. Sofort beginnt er, einen Schulchor aufzubauen, indem er alle fünften Klassen zum Singen verpflichtet.
Das ist ihm ein echtes Herzensanliegen – Sogar nach der Geburt unserer Tochter steht er nach einer durchwachten Nacht morgens um 8 Uhr auf der Matte, damit die Kinder nicht vergeblich kommen. Seine Rechnung geht auf – in der sechsten Klasse bleiben von achtzig Kindern mehr als sechzig freiwillig im Chor.

Im Sommer 1996 übernimmt Christian seine erste eigene Klasse, damit hat er ein Lebensziel erreicht! Anfang August soll es losgehen, und monatelang bereitet Christian sich darauf vor. Vor den Sommerferien schickt er jedem Kind schon einen liebevollen Brief mit einem namentlich beschrifteten Lesezeichen. Die ersten drei Tage werden minutiös durchgeplant mit Kennenlernspielen, Schulführung und Rallye durch die Schule, Basteleien und Vorbereitungen auf die ersten Unterrichtstage, Singen und Tanzen. Die Kinder sollen Steckbriefe gestalten und Erfahrungen aus der Grundschule und Erwartungen an die neue Schule austauschen, es werden Ämter verteilt, Getränke besorgt und ein „Freud- und Leid-Briefkasten“ wird bereitgestellt, auch die erste Klassenreise ist schon geplant.
Nach den Eingewöhnungstagen soll jeder Schultag mit einem Fünf-Minuten-Schreiben beginnen. Christian schreibt mit, er denkt sich ein Märchen aus, das er jeden Tag ein wenig weiter spinnt.
Nach genau vier Wochen bricht das Märchen am dunkelsten Punkt ab: ein Prinz, der eine kranke Prinzessin retten möchte, irrt von allen verlassen in einem fremden Land herum …
Danach verzeichnet das Schreibheft noch zweimal „Organisation“ – dann ist Christian krankgeschrieben.

Seine Klasse unterrichtet er nur sechs Wochen, die sind aber so intensiv, dass die zehn- oder elfjährigen Kinder ihren Klassenlehrer dreizehn Monate lang unerschütterlich durch seine Krankheit begleiten!
Die Kinder schicken ihm rührende Briefe:

Sie können ja im UKE unsere Briefe lesen. Schade das wir das Diktat nicht schreiben konnten, ich habe so geübt.

Frau H. ist eine sehr gute Vertretung, aber Sie sind immer noch der beste Lehrer den es gibt.

Ihre Verträtung ist Doof!!!! Sie meckert rum und verändert alles, das finden wir gemein.

Wir vermißen sie sehr. Eine Klasse ohne Klassenlehrer bringt nichts.

Eine Klasse ohne Klassenlehrer ist wie Fische ohne Meer.

Es ist langweilig ohne sie.

Viel Glück bei der Operazion und es wird alles wieder schnell heilen!

Wieso dauert es den so lange wenn jemandem die Lympfnoten entfernt werden müssen.

Ich warte schon so lange auf sie und sie kommen einfach nicht.

Aus dem Chor der sechsten Klasse kommen Gedichte:

Wir sollen ihnen von der gesammten Schule gute Besserung wünschen. Sie alle sind sich einige: SIE SIND DER BESTE LEHRER DER WELT

Wenn sie nicht bald wieder kommen, roßten unsere Stimmen ein!
Ich habe Ihnen noch einen Vers gedichtet:
Wenn der BESTE Lehrer fehlt;
und ein die Vertretung quält,
denke ich, wo ist der Mann,
der das alles besser kann!

Das Singen verlern wir von Tag zu Tag,
weil Sie nicht mehr da sind, ist alles so fad.
Bei Ihnen haben wir gesungen und gelacht,
bei Ihnen war immer alles entfacht.
Wenn wir zu Musik hochgehn,
denken wir, daß Sie dastehn.
Leider sind Sie doch nicht da,
das ist uns, jetzt auch schon klar.
Ich hoffe, Sie kommen bald zurück,
das wäre unser größtes Glück.
Ohne Sie gibt es keine fröhlichen Stunden,
einen besseren Chorleiter haben wir nicht gefunden.

Die Kinder schlafen in der Stunde ein,
Da kommt nichts in die Köpfe rein.
Da hilft nur eins H. Barthe muß her.
Chor ist für alle unbekannt.
Die Langeweile sieht schon über den Rand.
Da hilft nur eins H. Barthe muß her.
Keiner will mehr in die Schule gehen.
Von Lust und Laune ist nichts zu sehn.
Da hilft nur eins H. Barthe muß her.

Hallöchen Herr Bahrte,
ich wollte mich entschuldigen, dafür daß wir manchmal ein Vogel hatten und so laut in ihren Stunden waren. Wir vermießen alle den Chorunterricht. Fahren sie irgendwo weg mit ihrer süßen Tochter und ihrer Frau.

Von Geburtstagsfeiern und aus Urlauben schicken die Kinder Karten und Briefe:

Wir machen eine Relli.

Wir essen ein Eis am Ohstedter Bahnhof.

Wir waren in den Meistersingern in der Wiener Staatsoper. B. Weikl war Hans Sachs und war überragend. Der Walther war zu klein, so daß Eva ihm auf den Kopf spucken konnte.

Und die Kinder halten Christian auf dem Laufenden, wie es ohne ihn in der Schule weitergeht:

Über Weihnachten wollen wir die Klasse mit Weihnachtsgirlanden und Lichterketten schmücken. Auf dem Pult soll ein Teelicht mit einem Tannenzweig hin, und einem Advenzkranz. Wir hoffen das sie bald wieder kommen. Ihre Y. und M.: Verschönerungsamt

In Sport hatten wir Handstand gemacht! Das war gut, ich wußte gar nicht, das Frau F. so gut Handstand kann.

Wieso muß es eigendlich Handstände geben? Wozu braucht man sie im Leben?

Wir haben am Mittwoch bei den Hamburger Meisterschaften mitgemacht. Frau F. hat uns mit Erfolg trainiert! Die 5a ist Hamburger Meister!!!!! In den Disziplinen Barren, Bodenturnen, Schwebebalken und Kasten.

Ein Elfchen für Sie
Gelb
die Sonne
strahlt jeden Tag
sie gibt uns Licht
Freude

Frau H. hat sehr Halsschmerzen und deshalb müssen L., J. und ich immer für sie vorlesen.

Wir haben eine Friedensflagge auf die Fensterbank gelegt und den Umriss mit Steinen, jeder hat einen mitgebracht.

Wie einen väterlichen Freund, beziehen die Kinder Christian auch in ihren Alltag ein:

Unser Kater wechselt ungefähr alle 3 Monate seine Liegeplätze in der Wohnung; als es die letzten Tage doch endlich einmal schön war, besetzte er immer die Liege auf der hinteren Loggia.

Haben Sie gehört? Der F.C. St. Pauli hat leider 3:0 gegen den F.C. Bayern verloren. St. Pauli muß mal gewinnen dann werden Sie bestimmt wieder gesund.

Bei uns im Landhaus geht alles drunter und drüber. Hier und da geht etwas kaputt und dann muß mein Vater ein paar Tausent Mark bezahlen.

Hallo Herr Barthe wie geht es ihnen mir geht es schlecht. Ich hatte eine Platzwunde die genäht werden mußte ich hoffe ihnen ist das nicht passiert.

Ich habe übrigens einen kleinen Bruder bekommen, der Paulo heißt und sehr viel schreit.

Im Advent kommt ein Paket mit 24 kleinen Geschenke: selbstgebackenen Keksen und selbstgestalteten Postkarten, Trostpüppchen und Glückswürfeln, und ein Seidenmalerei-Fensterbild, das ich heute noch jedes Jahr aufhänge.

Dieses Krokodil habe ich selbst für Sie gebastelt! Es ist ein Zeichen für Kraft und soll Ihnen nun viel Kraft und Stärke geben, um wieder ganz gesund zu werden

Die Kinder schicken ein Buch mit Märchen, die sie im Deutschunterricht verfasst haben, und zu Weihnachten kommt ein weiteres Buch mit wunderschön gestalteten Bildern und Gedichten.

Advent Advent, 1 Lichtlein brennt, erst 1, dann 2, dann 3, dann 4, dann Weihnachten, Ferien, dann steht Herr Barthe vor der Tür

Das schönste Geschenk ist ein T-Shirt, auf welchem die Kinder Christian gemalt haben, wie er im Frack, mit wild abstehenden Haaren und Taktstock in der Hand einen Chor dirigiert, alle Kinder haben darauf unterschrieben: „Werden Sie bald wieder gesund, Ihre Kinder!“

Seine Rückkehr muss Christian immer wieder verschieben, aber die Kinder sind unermüdlich! Ende der Sommerferien, nachdem er fast ein Jahr krank ist, kommt immer noch Post an:

Wir hoffen daß ihre Terapi gut verläuft und sie wieder zur Schule kommen, sonst würden wir unseren Musiklehrer als Klassenlehrer kriegen. Aber das Problem ist daß keiner aus der Klasse ihn mag, und deswegen müssen sie wiederkommen

Als ich einen Gottesdienst in der Nikolai-Kirche singe, finde ich einen Eintrag im Kirchenbuch:

„Lieber Gott, bitte helfe unserem Musiklehrer Herrn B.!“

Im September fährt Christians Klasse auf eine von ihm noch organisierte Klassenreise, auch von dort schreiben ihm „seine Kinder“.

Aber ihre guten Wünsche und Gedanken werden nicht erhört – Christian stirbt in den Herbstferien, drei Tage vor seinem 33. Geburtstag.

Nach den Ferien gehe ich mit unserer Tochter in die Schule, um seiner Klasse persönlich Bescheid zu geben.

Die Nachricht hat sich schon herumgesprochen, Kinder und Eltern haben sich verabredet: Am nächsten Tag wollen sie einen Kranz binden, jeder möchte eine Blume hineinstecken, und sie werden Briefe hineinhängen.

Ich danke den Kindern: Christian hat es unendlich viel bedeutet, dass sie ihn so liebevoll begleitet haben. Auch für sie wollte er weiterleben. Nun sind die Kinder bei ihm – er trägt ihr T-Shirt.
Ich möchte die Kinder nicht mit meiner Trauer überfordern, aber ich kämpfe mit den Tränen. Das Kind auf meinem Schoß hilft uns allen – es schaut munter in die Runde und ruft: „Durst!“ Das löst ein wenig die Spannung.

Die Friedhofsgärtner haben die Briefe der Kinder eingesammelt und sie in einem Karton auf das Grab gelegt:

Lieber Herr Barthe,
Es ist sehr traurig das sie uns schon so früh verlassen haben vor allem 3 Tage vor ihrem 33. Geburtstag.

Die Klasse wollte für Sie ein Lied singen, Yesterday, weil Sie das doch so gern mögen, aber Ihre Frau meinte, wir würden das nicht fertigbringen. Und sie hatte recht! Sie haben eine tolle Familie und sind der tollste Lehrer den man sich vorstellen kann!

Nur 6 Wochen haben sie uns unterrichtet, 6 Wochen sind lang genug um sie kennenzulernen und wer sie kennenlernt wird sie nicht vergessen und in guter Erinnerung behalten.

Er war gut.
er war groß.
Bei ihm war immer was los.
Aber er war wie ein Floß –
gekommen, gegangen.
Wir mußten bangen,
ob er es schafft.
Wir dachten, das wär doch gelacht…
plötzlich kam die Wende
und es war zu Ende.

Ich habe ein schlechtes Gewissen weil ich mit Cello aufgehört habe. Jetzt wissen sie es. Auch wenn diese kein Liebesbrief ist, ich vermisse sie. Sie hatten für jeden etwas und besonders für Musik. Sie hatten noch so viel vor mit uns aber das ist nun vorbei. Ich strenge mich für sie im Klavierunterricht an und ich hoffe, sie freuen sich darüber.

Ich wollte ihnen noch einmal für alles danken, was sie für uns gemacht haben. Auch wenn sie nur ganz kurze Zeit uns unterrichteten werde ich sie nie vergessen. Den in meinen Gedanken sind sie noch nicht gestorben.

Es war wunderschön mit ihnen.

Sie werden in meinem Herzen immer weiter leben. In Dankbarkeit Ihr Y.

Ich schreibe ihnen diesen Brief aus Dankbarkeit. Ich hoffe das sie jetzt Ruhe vor dem Krebs gefunden haben. Teresa tut mir unglaublich leid. Es muss schlimm für ein einjähriges Kind sein seinen Vater so früh zu verlieren. Ich wünsche ihnen viel Ruhe im Himmel bei den Engeln.

Sie waren so nett und witzig und haben unsere Klasse immer zum Lachen gebracht. Sie waren so offen, setzten uns nicht unter Druck. Sie hatten so viele schöne Sachen mit uns vor. Doch dann kam die Krankheit. Doch sie blieben so witzig und offen wie zuvor. Sie zeigten uns ihre neue Frisur und ihre Krankheit war ihnen nicht peinlich. Sie haben gegen die Krankheit gekämpft und es nicht geschafft. Doch in unseren Herzen bleiben sie immer unser Lieblingslehrer.

Ich hoffe das sie es sehr gut haben im Himmel. Und wenn ich an sie denke werde ich sehr traurig sein.

Das Meer, ich mag auch das Meer sehr gerne und ich hoffe das sie im Himmel noch viel Meer sehen werden.
Die Kraft kann man nicht sehen nur fühlen.
Kraft so viel Kraft wie ich ihnen gewünscht habe habe ich noch keinem Menschen gewünscht. Doch die Kraft reichte wohl nicht aus nun noch die Krankheit wegzukriegen, aber ich glaube da hätten sie noch so viel Kraft bekommen können, so eine Krankheit läst sich von Kraft nicht beheben.
Ich wünsche ihnen noch ein schönes Leben in der entlosigkeit und Freiheit des Himmels.

Ich finde es total ungerecht, dass ein so lieber Mensch so früh sterben muß! Hoffentlich gibt es ein Leben nach dem Tod. Und sie sind eines Tages mit ihrer Familie zusammen! Tschüss Herr Barthe!

An Herrn Barthe!
Ich gebe dir ein Freundschaftsband mit auf deinen Weg. Deiner Frau und deiner Tochter schenke ich das gleiche, und das soll euch für immer zusammen halten und das ihr immer beisammen seid.

In Liebe N.

Und per Post kam dieser Brief:

Hallo Frau Barthe! Ich habe in diesem Brief zwei Freundschaftsbänder eins für sie und ihre Tochter. Herr Barthe hat genau das gleiche im Grab. Es soll euch immer zusammenhalten.

Christian war ein ganz besonderer Lehrer, aber auch die Kinder seiner Klasse waren ganz außergewöhnliche junge Menschen. Als Christian 1997 starb, waren die Kinder 11 oder 12 Jahre jung. Wenn ich ihre Briefe lese, bin ich überwältigt, zu welcher tiefen Liebe, Empathie und Weisheit diese jungen Menschen fähig waren, und wie wundervoll sie ihre Gefühle ausdrücken konnten.

Inzwischen müssen sie an die 40 Jahre sein, älter als ihr Klassenlehrer es je werden durfte.

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