„Ich brauche eine Rettung“

19. Mai 2020

Aus der Rubrik „Das war meine Rettung“ des ZEIT- Magazins wurde vor einigen Wochen  coronabedingt „Ich brauche eine Rettung“.

Dass ich zu den Menschen gehören könnte, die sich „Rettung“ wünschen, konnte ich bisher ausschließen.

Ich habe Übung darin, in allem Schweren, was mir begegnet, das Gute zu sehen und jede Herausforderung als Aufgabe zu erleben, die ich lösen kann, nach dem Motto: „Auch aus Steinen, die uns in den Weg gelegt werden, können wir etwas Schönes bauen“.
Auch der Corona-Krise bin ich unverzagt und zuversichtlich begegnet, in der Gewissheit, dass mich weder finanzielle Einbußen noch der „Lockdown“ nachhaltig beeinträchtigen könnten.

Aber je länger diese Krise andauert, desto deutlicher wird, dass nun die Substanz dessen betroffen wird, was mir unverzichtbar erscheint: Ich fürchte um die Kultur, um die Musik, speziell um das Singen, allein, in Chören oder in Gemeinden.

Das Virus verbreitet sich über den Atem, deshalb wird explizit das gemeinsame Singen als gefährlich eingestuft. Immer wieder liest man von Chören, in welchen sich durch das Miteinander-Singen fast der gesamte Chor angesteckt hat und einige Chormitglieder gestorben sind.

Singen ohne zu atmen – das geht naturgemäß nicht. Singen mit Mundschutz ist undenkbar.
Das, worauf es mir in meiner Arbeit ankommt, kann ich nur im direkten Kontakt mit Menschen vermitteln: Die Feinarbeit an Klang, Resonanzen und Körper überträgt sich nicht per Skype und Klavierbegleitung mit den üblichen „lags“ geht gar nicht.
Ich bin froh, dass es wieder erlaubt ist, Privatunterricht zu geben (mit entsprechendem „Hygienekonzept“ und Abstand, aber immerhin). 
Es ist aber überhaupt nicht absehbar, wann und wie es weitergehen kann mit dem gemeinsamen Singen.

Mein „traditionelles Betätigungsfeld“, die Kirchenmusik, bröckelt schon seit langem. Nun ist zu befürchten, dass dieser Trend sich beschleunigt. Kollegen berichten, dass schon jetzt kirchenmusikalische Projekte für das kommende Jahr gestrichen werden, weil für die für dieses Jahr gezahlten Ausfallhonorare die Budgets erschöpfen.
Seit Jahren werden immer mehr Kirchenmusikstellen gestrichen, für etliche hochqualifizierte Musiker gibt es keine Anstellung. Auch diese haben sich zu helfen gewusst – es sind viele großartige freie Chöre und Vokalensembles entstanden, die Hamburger Chorszene hat sich dadurch sehr gewandelt.

In den Chören, die ich betreue, sind viele ältere Menschen, die ihr Leben lang gesungen haben. Ihnen bedeuten die Musik und die teils jahrzehntelange Gemeinschaft innerhalb der Chöre viel.
Kirchenchöre bemühen sich seit Jahren um „Verjüngung“, indem sie ältere Mitglieder aussortieren. Viele von ihnen haben sich tapfer neu orientiert und wurden von Seniorenkantoreien aufgefangen. Nun gehören sie aber zur „Hochrisikogruppe“. Ob und wann sie wieder miteinander musizieren werden, ist fraglich.
Auch „normale Chöre“ werden auf längere Zeit nicht in gewohnter Weise zusammenkommen können. Die Chorleiterin der phantastischen Hamburger Mädchenchöre hat sobald es möglich war wieder begonnen, in kleinen Gruppen zu proben. Es gibt aber kaum einen Veranstalter, der wagt, dieses wunderbare Ensemble aus 60-80 Mädchen für Konzerte zu engagieren. Das ist sehr schmerzhaft.

Es ist fraglich, wie und wann es überhaupt wieder klassische Konzerte geben wird. Man überlegt, die Bläser in den Symphonieorchestern jeweils 2m voneinander entfernt zu setzen, mit Plexiglas gegeneinander abgeschirmt, die Instrumente regelmäßig von Kondenswasser reinigend – welche Bühne hat so viel Platz??? Auf das Podium der Elphie passt ja jetzt schon kein Chor hinter das Orchester, und wenn man Oratorien aufführen wollte, wäre selbst die Empore des Michels zu klein, um den erforderlichen Mindestabstand zwischen den Aufführenden einzuhalten, außerdem stelle man sich mal vor, wie beispielsweise die vier Oboen in Bachs WO mit jeweils 2m Abstand voneinander gemeinsam musizieren… Auf absehbare Zeit wird es wohl nicht möglich sein, größer besetzte Kompositionen aufzuführen. Noch unwahrscheinlicher sind Opern- oder Ballettaufführungen mit dem Orchester im Orchestergraben oder „kontaktloses“ Agieren auf der (Theater-) Bühne…

Ich befürchte, dass sich nun die „Konzentration“ oder „Verdichtung“ des Musikbetriebes weiter verstärkt.
Große Namen wie Kaufmann, Jarousski oder Netrebko lassen sich mit Hilfe der elektronischen Medien natürlich weiterhin, vielleicht sogar noch besser vermarkten. Igor Levit hat sich mit seinen „Wohnzimmer-Konzerten“ in viele Herzen gespielt. Namhafte Künstler nutzen die Zeit, um CDs aufzunehmen – vielleicht gibt es eine kleine Auferstehung dieses Mediums, das eigentlich schon als „überholt“ gilt.
Es werden enorme Summen für den Kulturbetrieb zur Verfügung gestellt. Alteingesessene Beschäftigte an Staatlichen Theatern, Opernhäusern und Rundfunkanstalten erhalten weiterhin ihre Gehälter. Damit dürften die öffentlichen Töpfe weitgehend erschöpft sein.
Freiberufler verlieren sämtliche Einnahmequellen. Man hört schon von Kollegen, die Häuser und sogar Instrumente verkaufen. Die gut gemeinten Zuschüsse für selbständige Künstler können nicht kaschieren, dass ihnen auf absehbare Zeit sämtliche Auftrittsmöglichkeiten wegbrechen.
Ob und wie in Zukunft kleine, feine Projekte finanzierbar sind, muss sich zeigen. Es kann ja nicht jeder wie ich vor lauter Dankbarkeit, sich überhaupt mitteilen und auftreten zu dürfen, seine Kunst „umsonst“ präsentieren…

Und das Publikum – selbst wenn man nur jeden dritten Platz in jeder zweiten Reihe besetzt – die unweigerlich einsetzenden Hustenattacken zwischen den Sätzen der Stücke würden zwangsläufig eine Massenpanik auslösen.

Während des Shutdowns wurde deutlich, dass das Einzige, was wirklich absolut unverzichtbar ist, Lebensmittel, Hygiene und medizinische Versorgung sind. Für die in diesen Bereichen Tätigen hat sich der Begriff „systemrelevant“ etabliert – und prompt versucht so mancher eher hilflos, auch seinen Bereich für systemrelevant zu erklären.
Eigentlich müsste dieser Begriff trotz aller berechtigten Freude über die überfällige und wohlverdiente Anerkennung der „Betroffenen“ zum „Unwort des Jahres 2020“ werden – wertet er doch Vieles und Viele in einem Ausmaß ab, das wir glücklicherweise nicht mehr kennen…

Kaum jemand nutzt die Zeit, um endlich Thomas Mann oder die Wälzer von Dostojewsi zu lesen oder Mahler-Symphonien zu hören.
Die Kraken Amazon, Netflix und Disney profitieren enorm von der Krise. Ob die kleinen Geschäfte oder Programmkinos (mein geliebtes Abaton!) diese Zeit überstehen, ist nicht sicher. Von Herzen hoffe ich, dass die von mir so geschätzte „Hoch-Kultur“ sich als so stark und unverzichtbar für das menschliche Wohlbefinden erweist, dass sie nicht ganz untergeht.

Wie lange halten wir die Einschränkungen durch, wie stark wird die Protestbewegung, wie viele Blasen werden noch platzen, ist es eine Katastrophe, dass der Absatzmarkt für SUVs einbricht, was wird aus Kreuzfahrten und Flugbetrieb, wie geht es weiter in den Ländern, die vom Tourismus leben, wer kann die Kredite für sein überteuertes Haus vielleicht nicht mehr bedienen?
In wie viele Sackgassen ist man mit Vollgas gefahren, nun staunt man, dass am Ende wirklich eine Wand steht…

In den Gärten der heutzutage gebauten Häuser ist kein Platz mehr für Apfelbäumchen. Vieles verändert sich gerade nachhaltig, wir müssen ganz neu darüber nachdenken, wie wir leben und was wir unseren Kindern weitergeben wollen.

Die Welt „nachher“ wird nicht wieder so werden wie zuvor, aber darin liegt vielleicht eine Chance, die Vollbremsung zu nutzen und innezuhalten, nicht komplett wieder in das alte „Hamsterrad“ zurückzukehren und von der aufgezwungenen Entschleunigung, der neugewonnenen Leichtigkeit so viel wie möglich in den neuen Alltag zu retten.

Nie hat man so viele Jogger und ganze Familien spazieren gehen sehen. In den letzten beiden Monaten ist unsere Nachbarschaft eng zusammengewachsen. Die Kinder fuhren mit ihren kleinen Lauf- und Fahrrädern auf und ab, bemalten Steinplatten und Zäune mit Kreide und spielten sich durch alle Gärten. Die Nachbarn spielten Tischtennis, tauschten Ableger ihrer Pflanzen und teilten Frischgebackenes, ein 98jähriger Herr freute sich, dass junge Frauen bei ihm klingelten, die fragten, ob er Hilfe benötigte, eine Nachbarin, die gerade ein Baby bekommen hat, sprach davon, wie demütig sie die Erfahrungen der letzten Wochen gemacht haben.
Wir melden uns bei Menschen, an die wir länger nicht gedacht haben. Anrufe, Mails und echte Post gehen hin und her.

Noch ist nicht absehbar, wie dramatisch sich die Lage noch entwickelt, wie tiefgreifend die Einschnitte sein werden, bei uns und weltweit. Wir wissen nicht, wie lange wir uns hier auf unserer deutschen Insel des Wohlstandes in Sicherheit wiegen können, wie weit die Rücklagen reichen, was am Ende wirklich übrig bleibt von dem, was uns unverzichtbar scheint. Ich hoffe inständig, dass nicht alle paar Jahre ein neues mutiertes Virus sich verbreitet, SARS-CoV-3 oder COVID-21…

Vielleicht kommt nun die große Stunde der Kammermusik, eine Renaissance der Liederabende und Hausmusik-Besetzungen.
Ich hoffe aber von Herzen, dass Menschen wieder miteinander singen und musizieren dürfen und dass es wieder möglich sein wird, auch die großen, wunderbaren Kompositionen – Elias! Brahms-Requiem! Matthäuspassion! Bruckner-Symphonien! – , die mir so am Herzen liegen, aufzuführen.

Sicher scheint mir das gerade leider nicht.

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