6. Januar 2025
„Der Lebenskreis eines großen Lehrers und Förderers der Jugend hat sich geschlossen.“
95 gesegnete Jahre umfasste der weite Lebenskreis von Dieter Lindemann, der als Musiklehrer am Albert-Schweitzer-Gymnasium wirkte. 1974 gründete er das Albert-Schweitzer-Jugendorchester, und als Lehrer und Dirigent führte er zahllose junge Menschen auf ihren musikalischen Lebensweg. Dieter Lindemann hat so lange gelebt, dass es sich anfühlte, als sei er unsterblich – und in gewisser Weise ist er das auch!
Hinten in den 2. Violinen des Orchesters und als Schülerin im Musikleistungskurs durfte ich einige Jahre lang Teil dieser großen Schar sein.
Im ASJ war ich nur ein kleines, unbedeutendes Licht, aber für meinen Lebensweg waren diese Jahre ungeheuer prägend. Dieter Lindemann hat mir und uns allen die unerschöpfliche, vielgestaltige Schatztruhe der klassischen Musik weit geöffnet und uns in ihre Kostbarkeiten tief eintauchen lassen, und er hat uns das Rüstzeug und den Hunger mitgegeben, diese Schätze unser Leben lang weiter zu bergen und zu pflegen.
Erst im Laufe meines musikalischen Lebens wurde mir bewusst, was für legendäre Zeiten wir damals erlebt haben. Anlässlich des 50jährigen Jubiläums des ASJs im November 2024 saß ich in der Laeiszhalle und habe mich gemeinsam mit vielen anderen an diese für mein Leben so entscheidenden Jahre erinnert.
1979 besuchte ich zum ersten Mal ein ASJ-Konzert in der Musikhalle, da wurde Beethovens 7. Sinfonie gespielt. Was für eine Offenbarung, zu erleben, wie diese jungen Leute vor allem den überirdisch schönen zweite Satz gestalteten! Als die ersten Violinen das Fugenthema anstimmten und anschließend über dem Bläsersatz jubelten, zersprang mir fast das Herz!
Ein Jahr später hörte ich Dvoraks 6. Sinfonie, da ließ mich vor allem das Scherzo gar nicht wieder los! Auf der Rückfahrt war ich nicht ansprechbar – so intensiv tönten die Klänge in meinem Kopf!
Etwas später geriet ich eines Mittwochsabends in die Halle des Albert-Schweitzer-Gymnasiums, als das Orchester die „Hebriden-Ouvertüre“ von Mendelssohn probte. Im dunklen Vorraum zu stehen und den wilden Streicherkaskaden zu lauschen – das war einfach überwältigend!
Von Stund‘ an träumte ich von nichts anderem, als in diesem Orchester mitzuspielen!
Was für eine unfassbare Freude und Ehre war es, als ich 1981 tatsächlich das Vorspiel bestand und gleich auf eine Sommerreise nach Arnsberg mitfahren durfte!
Mozarts Haffner-Sinfonie – ich frage mich heute noch, wie ich sie fast ohne Probe mitspielen „konnte“, wohl eher „durfte“, aber irgendwie muss es funktioniert haben.
Wir kleinen Geiger an den letzten Pulten hatten im ASJ große Vorbilder: Die Solopartien der Konzerte von Mozart, Beethoven, Mendelssohn und sogar von Brahms konnten mit orchestereigenen Solisten besetzt werden! Durch die Begegnungen mit diesen begnadeten jungen Musikerinnen und Musikern sind wir alle ein bisschen über uns hinausgewachsen.
Wir bewunderten aber nicht nur ihre gewaltigen musikalischen Leistungen. Staunend und andächtig sogen wir alles auf, was wir mit diesen genialen jungen Künstlern und Künstlerinnen erlebten. Der Solo-Cellist, der mit seiner Instrumententasche in der Hand auf dem Rad von der Jugendherberge zum Probenort fuhr – ein unvergessliches Bild!
Allen voran begeisterte uns eine Familie, deren vier Kinder eines nach dem anderen Jahr für Jahr die Bundespreise bei „Jugend musiziert“ abräumten. Atemlos verfolgten wir den kometenhaften Aufstieg eines Violinisten, der sich mittlerweile seit Jahrzehnten als Fixstern am Violinistenhimmel hält. Von der Sorte gab es damals mindestens vier weitere Exemplare, die Karrieren als Solisten und in Kammermusikensembles gemacht haben oder an führenden Positionen in renommierten Orchestern landeten. Einer von ihnen, der irgendwo in den ersten Geigen saß, spielte später bei den Berliner Philharmonikern!
Höhepunkte waren die wundervollen Reisen – der Austausch mit einem Jugendorchester aus Paris, ein Besuch in der Deutschen Schule in Madrid, und von dort ein Ausflug in die alte Stadt Caceres, alles mit Bahn und Bus. Dieter Lindemann hat uns junge Leute an der langen Leine laufen lassen, gab es eigentlich Aufsichtspersonen? Waren das die älteren Orchestermitglieder? Dieter hat uns vertraut, und es ging ja auch weitestgehend gut.
In Paris hatten wir auf dem Weg nach Madrid sechs Stunden Aufenthalt – beherrschte eigentlich jemand von uns die französische Sprache? Die Auflage war, dass Minderjährige sich volljährigen „Betreuern“ anschließen sollten, und so schwärmten wir in kleinen Grüppchen in die Stadt.
Im Jardin du Luxembourg packten wir unsere Geigen aus und spielten den Kanon von Pachelbel, das nahm jedoch ein etwas unrühmliches Ende: Wir hatten nur ein einziges Notenexemplar, aus dem wir spielen konnten, was eine ganze Zeitlang gut ging, eben weil es sich um einen Kanon handelte, aber am Ende kleckerte unsere Darbietung ziemlich kläglich aus, nicht zuletzt, weil dieses einzige Blatt einem Windstoß zum Opfer fiel.
Ein Gendarm, der bis zum Schluss lauschend gewartet hatte, forderte uns freundlich auf, unsere Instrumente wieder einzupacken. Ein schüchterner junger Trompeter, der sich abseits von uns ins Publikum gestellt hatte, wagte sich erst wieder in unsere Nähe, als wir alles verstaut hatten und die Zuhörer verschwunden waren: „Das war ja wohl peinlich!“
Es müssen aber am Ende alle wohlbehalten und pünktlich zur Weiterfahrt am Bahnhof erschienen sein, jedenfalls erinnere ich nicht, dass jemand gefehlt hätte.
Sommerferien in Grainau – da gab es von morgens bis abends Proben und bis spät in die Nacht noch Kammermusik. Eines Abends bildete sich spontan ein Ensemble aus 14 bis 19jährigen, die einfach mal so das Oktett von Mendelssohns spielten – Gänsehaut pur, bis heute!
Eine kleine private Anekdote: Auf dieser Reise erwischten mich meine Zimmergenossinnen hinter der Tür, mit einem großen Löffel in einem Nutella-Glas. Kurz danach hatte ich Geburtstag, in der ASJ-Probe erhielt ich drei Gläser mit Schokocreme, und ein 12jähriger Geiger, der noch nicht über so viel Taschengeld verfügte, überreichte mir eine Rumkugel.
Die Sinfonien von Beethoven, Brahms und sogar Bruckner – was für eine Chance, dass wir solche Werke mitgestalten durften!
Unvergesslich ein Projekt mit Beethovens 7. und 8. Sinfonie unter der Leitung von Aldo Ceccato.
Der große Dirigent besuchte uns anlässlich einer Probe, in welcher wir die Egmont-Ouvertüre vorbereiteten. Ceccato stellte sich vor das Orchester, um uns einmal kennenzulernen, und fragte Dieter Lindemann, wie er denn die ersten Akkorde dirigiere – dieser fuchtelte mit den Armen in der Luft: „Ich mache das eigentlich immer so!“
Genau „So“, mit schlichten, bisweilen rudernden Gesten, gelang es Dieter, all die großen Werke zu dirigieren – und wir, die wir ihn kannten und in monatelangen Proben bestens vorbereitet waren, konnten ihm dabei hervorragend folgen.
2010 hat Dieter Lindemann die alten Aufnahmen zu CDs pressen lassen. Während ich dies schreibe, spielt unser damals 16jähriger Solist unfassbar gut Brahms‘ Violinkonzert, und auch das junge Orchester muss wirklich keinen Vergleich scheuen!
Eine weitere glückliche Fügung war, dass ich im Musik-Leistungskurs von Dieter gelandet bin. In unserem Abi-Jahrgang 1984 gab es zwei Leistungskurse mit jeweils 9 Teilnehmern, und fast alle planten, Musik zu studieren – was für eine Förderung haben wir da genossen! So etwas wäre heute undenkbar!
Dieter vermittelte uns in den vier Semestern einen unfassbar umfassenden Überblick über die gesamte Musikgeschichte: Musikentwicklung von 600 bis zum Barock, Gregorianik, Minnesänger, Renaissance, Kirchentonarten, Fugenanalyse, Generalbass, barocke Tänze, Einfluss Luthers auf die Musik, Messe, Musikalische Rhetorik, Obertöne und Stimmung, die Gedankenwelt der Romantik, beschrieben anhand der „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ von Wackenroder und Tieck, Liedanalyse, Harmonielehre und Kontrapunkt, Sonatensatzform in den Sinfonien von Brahms.
Im dritten Semester durfte sich jeder einen Komponisten der Romantik aussuchen und ihn vorstellen (deren Lebensdaten weiß ich bis heute), und in einer Projektwoche untersuchten wir die Sinfonien von Anton Bruckner (die umfangreichen Partituren zu lesen war für uns selbstverständlich). Im Zuge dessen hatten wir die Chance, Proben der Philharmoniker und des NDR zu besuchen, die gerade die 1. und 5. Sinfonie probten, letztere sogar unter der Leitung von Günter Wand.
Das letzte Semester diente der „Neuen Musik“, von „Tristan“ über Debussy, Bartok, Schönbergs 12-Ton-Musik und Strawinsky bis zu den Modi von Messiaen und Ligeti.
Wenn ich heute meine Aufzeichnungen aus den beiden Jahren anschaue, wird mir fast schwindelig! Mit dem, was ich in diesen beiden Jahren gelernt habe, konnte ich an der Musikhochschule im ersten Semester alle Nebenfächer mit der Note 1 abschließen, und während meines gesamten musikalischen Lebensweges konnte ich von dem zehren, was ich aus den Jahren am ASG und im ASJ mitnehmen durfte.
Im Leistungskurs hat uns aber auch der oben erwähnte Violinist sehr viel mitgegeben. Er bereitete sich damals auf einen Wettbewerb vor und musizierte dafür in einem Hauskonzert die drei Sonaten von Brahms und das Scherzo aus der FAE-Sonate – was für ein Geschenk, dass wir diese wundervollen Werke aus nächster Nähe in so vollendeter Interpretation genießen durften! Im Musikunterricht spielte uns eben jener Musiker die E-Dur-Partita von Bach vor, nachdem er sie musikalisch und violintechnisch erläutert hatte. Theorie und Praxis auf allerhöchstem Niveau!
Wenn eine Tür quietschte, analysierte der junge Mann sofort: „Viergestrichenes Fis“.
Darüber hinaus war er unfassbar schlau – in unseren Jahrgang war er geraten, indem er eine Klasse übersprang. Er zog dann auch noch das Abi vor und beendete seine Schullaufbahn ein halbes Jahr vor uns allen mit einem grandiosen Schnitt.
Man ahnt es schon: dieser Mensch war auch noch sportlich und sympathisch – und er hatte einen herrlich intelligenten Humor. Wir „Normalsterblichen“ hatten großen Respekt vor ihm, auch wenn er das niemals erwartet, geschweige denn eingefordert hätte. Eine Mitschülerin brachte es auf den Punkt: „Ach, mit dir kann man sich ja nur über das Wetter unterhalten!“ – Worauf er sofort schlagfertig konterte: „Genau, wir befinden uns in einem Azorenhoch, das sich von der Biskaya bis nach Mitteleuropa erstreckt.“
Ich hätte eigentlich gern Geige studieren wollen, aber die Maßstäbe, die in diesem Orchester gesteckt wurden, waren so hoch, dass ich das nie gewagt hätte – mir war damals nicht klar, dass nicht in jedem Musik-Leistungskurs ein solches Genie saß… Nun denn, so habe ich halt gesungen… War ja auch schön…
Im November 2024 hatte diese Geschichte ein für mich überraschendes Nachspiel.
Es erklang das Violinkonzert von Brahms mit ebenjenem Solisten, der dieses Konzert auch schon 1983 auf unserer Reise nach Madrid gespielt hatte, und beim Hören erkannte ich, in welchem Ausmaß mich sein Spiel geprägt hat:
Mein gesamtes Sängerinnen-Leben lang habe ich nach einem ganz besonderen Timbre gesucht. Berühmte und nicht so berühmte Kolleginnen habe ich geschätzt und bewundert, ich wollte aber nie so singen wie sie. In meinen besten Zeiten befand jemand, ich hätte „einen Klang wie die Geigen von Stradivari“ – und plötzlich, hier in diesem Jubiläumskonzert, hörte ich im Gesang der Violine den Klang, den ich mir für meine Stimme gewünscht hatte: Das lückenlose legato eines Geigenbogens, einen strahlenden, obertonreichen Klang, bei dem Vibrato nur gezielt als Ausdrucksmittel eingesetzt wird, und eine Mischung aus Klarheit und Wärme.
Dieter Lindemann hat sich weit über seine Pensionierung hinaus, solange es ihm möglich war, für seine „Schäfchen“ interessiert und sie nicht nur anlässlich von Konzerten besucht. Auch wir hatten noch viele wunderschöne private und musikalische Begegnungen. So wünschte er sich, mit mir zusammen die Lieder zu musizieren, die seine liebe Inge in ihrer Jugend gemeinsam mit ihm gesungen hatte – die Deutschen Arien von Händel oder Lieder von Schubert und Schumann.
„Der Lebenskreis hat sich geschlossen“ – wie wahr ist diese Formulierung in der Traueranzeige! Der Lebenskreis von Dieter Lindemann schloss sich dort, wo er geboren wurde und aufwuchs: In Reinbek. Aus seinem letzten Wohnsitz blickte er auf seine erste Wirkungsstätte: den Turm der Kirche, in welcher er als junger Mann die Orgel spielte.
Das letzte, was Dieter in seinem Leben hörte, war die Air von Bach, und anlässlich seiner Trauerfeier reisten zwei großartige Violinisten, deren Karrieren im ASJ begonnen hatten, extra aus Berlin an, um eine Bearbeitung dieser Komposition für zwei Violinen für ihn zu spielen. Zahlreiche ehemalige Schüler und Orchestermitglieder kamen, um sich von ihrem ehemaligen Lehrer und Mentor zu verabschieden – Ausdruck tiefer Verbundenheit und unendlicher Dankbarkeit für das, was er ihnen und so vielen anderen auch nach Jahrzehnten noch bedeutet und immer bedeuten wird!
Zwischen Hamburg und Reinbek – das Leben von Dieter Lindemann hat sich räumlich in einem vergleichsweise winzigen Radius abgespielt, er hat aber zahllosen jungen Leute den Weg zu großen Karrieren gebahnt, sodass der Umfang seines Wirkkreises in gewisser Weise doch weltweit reichte!