Es weiß und rät es doch keiner,
Wie mir so wohl ist, so wohl!
Ach, wüßt‘ es nur einer, nur einer,
Kein Mensch es sonst wissen soll!
So still ist‘s nicht draußen im Schnee,
So stumm und verschwiegen sind
Die Sterne nicht in der Höh‘,
Als meine Gedanken sind.
Ich wünscht‘, ich wär‘ ein Vöglein
Und zöge über das Meer,
Wohl über das Meer und weiter,
Bis daß ich im Himmel wär!
Die zwölf Gedichte des Liederkreises op. 39 von Josef Eichendorff hat Robert Schumann selbst zusammengestellt. Auch wenn dieser Liederzyklus insgesamt wohl nicht als tragisch empfunden wird, haben doch nur wenige der Lieder eine eindeutig positive Grundstimmung.
Im Gegensatz zu „Frauenliebe und -leben“ und den Maria-Stuart-Gedichten entsteht dabei keine nacherzählbare Geschichte. Einige typisch romantische Motive kehren jedoch immer wieder: Alte Sagen, Götter aus grauer Vorzeit, Schauriges und märchenhafte Elemente sind typische Themen der Romantik.
Die meisten der Lieder singen im oder vom Wald, wobei die Natur nicht nur dekorative Kulisse ist, sondern die innere Verfassung des Sängers spiegelt.
In einer Reihe der Gedichte verbergen sich hinter scheinbarer Idylle finstere Abgründe, Einsamkeit, Leid und Todessehnsucht. Erlösung findet der Romantiker nur im Tod.
Ungetrübtes Glück vermitteln nur die Lieder „Intermezzo“, „Die Stille“ und die abschließende „Frühlingsnacht“. Schumann führt seinen Liederzyklus zu einem versöhnlichen Schluss.
Die Stille – Vergnügt ist der Sänger, kein äußerliches Strahlen erfüllt ihn, sondern eine ganz tiefe innere Freude.
Wie herrlich ist diese Lebensfreude, die aus sich selbst heraus entsteht, die nicht unbedingt mitteilbar ist, höchstens dem Einen, Einzigen, das wünscht man sich, aber ob man’s wirklich erzählen kann oder möchte, das bleibt offen. Vielleicht bleibt das Vergnügen auch ungeteilt, dadurch aber nicht weniger erfreulich.
„Einsam ist man, wenn man allein ist und das nicht sein möchte“, so hat mein Sohn es mit vier Jahren formuliert. Der Sänger aber fühlt sich nicht einsam. Er genießt das Alleinsein, er nimmt die Natur in sich auf, die Stille einer Schneelandschaft, die Weite des Weltalls, das Gezwitscher und Geflatter der Vögel, und er sehnt sich danach, an dieser Weite, an der Unendlichkeit der Welt teilzuhaben.
Dieses tief empfundene Naturerlebnis verarbeitet Eichendorff zu einem Gedicht, welches Robert Schumann zu einer Liedkomposition inspiriert.
Ein Sänger oder Pianist bringt in seine Interpretation wiederum eigene Erfahrungen ein und hofft, dass sich das Publikum in seiner Darbietung wiederfindet.
Hochgefühle stellen sich ein, wenn ein wunderbares Gedicht kongenial vertont von hervorragenden Künstlern dargeboten und von aufmerksamen Zuhörern aufgenommen wird.
Wenn aber an irgendeiner Stelle dieser Kette Dichter-Komponist-Interpret-Zuhörer ein Bruch ist, schmälert das den Konzertgenuss – und dieser Bruch lauert überall.
Angefangen bei der Qualität des Textes. Man nehme als Beispiel merkwürdige, heutzutage völlig unverständliche Texte wie die einiger Bach-Kantaten – „Mein Herze schwimmt im Blut“, „Seele, deine Spezereien sollen nicht mehr Myrrhen sein“, oder einige Opern-Sujets, die mit ihren Verkleidungen und Verwechslungen total absurd sind. Erstaunlicherweise gelingt es aber großen Komponisten wie Bach oder Mozart auf wundersame Weise, aus den spröden Vorlagen überzeugende Kunstwerke zu machen.
Ein hervorragendes Gedicht kann durch eine unangemessene Vertonung verflachen oder man kann ein gutes Gedicht durch einen zu komplexen Tonsatz überfrachten. Es ist Ansichts- und Bildungssache, ob es bei Carl Friedrich Zelter aufhört, bei Hugo Wolf oder Anton Webern.
Und was können Interpreten nicht alles falsch machen oder richten! Mittelmäßige Werke können durch eine schöne Stimme oder einen fesselnden Künstler aufgewertet werden, so wie einen manch gewandter Redner mitreißt, ohne dass man den Inhalt seiner Rede versteht oder hinterfragt, aber die Zahl der Kompositionen, die durch keine noch so schlechte Aufführung kaputt gemacht werden können, ist überschaubar.
Wie viel und welche Lebenserfahrung muss ein Interpret mitbringen?
Kann und darf ein Sänger Texte singen, deren Inhalt er nicht erlebt hat?
Wie glaubwürdig sind Liebesszenen in Opern? Darf man von Liebe nur singen, wenn man frisch verliebt ist, von Liebesleid nur mit gebrochenem Herzen?
Ist alles andere künstlich und aufgesetzt?
In Opern ziehen kokette Püppchen die Fäden, liegen die Männer feurigen Buhlen zu Füßen, obwohl oder gerade weil diese sie am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Verlassene meinen, sterben zu müssen, selbstlos Liebende opfern sich für Kerle, die das gar nicht verdient haben. Wie präsentiert man das, ohne in Klischees zu verfallen?
Ist nur das Tragische tief? Ist das Heitere, Unbeschwerte oberflächlich? Wollen wir das Publikum einfach nur unterhalten, oder machen wir uns dadurch zu Zirkusclowns? Was berührt, wie viele schreckliche Erlebnisse braucht es, um tiefe Not glaubhaft auszudrücken? Führen Lebenskrisen zum Zusammenbruch oder gelingt es, durch das Erlebte der Kunst ungeahnte Tiefe zu verleihen?
Muss man ein Kind haben, um Frauenliebe und -leben singen zu können?
Das habe ich lange gedacht und daher nur die ersten vier Lieder gesungen, bis zur Verlobung, das konnte ich mir noch vorstellen.
Als ich eines Tages doch den gesamten Zyklus aufführte, inzwischen mit Kind, in der Annahme, den Texten, auch dem letzten, gerecht werden zu können, war mein Mann mit unklarer Diagnose schon krankgeschrieben.
Ein Jahr später hatte ich auch den Inhalt des letzten Liedes erlebt – da wäre der Text viel zu nah gewesen, als dass ich ihn hätte singen können, das konnte ich erst 13 Jahre später wieder.
Ein Organist fragte mich nach dem Tod meines Mannes, ob es schwerer sei, ein Requiem zu singen oder Halleluja. Christian starb im Oktober, im November hatte ich ein Brahms-Requiem zu singen, „Ich habe eine kleine Zeit Mühe und Arbeit gehabt und habe großen Trost funden“ – da stand ich noch unter Schock und konnte die Arie nur durchstemmen, aber auch die Adventszeit mit „Ich verkündige euch große Freude“ ging wie ein Film an mir vorbei. In dieser Verfassung hätte ich vermutlich gar nichts adäquat singen können, andererseits war es nicht nur aus finanziellen Gründen existenziell, aufzutreten – die Musik war das Einzige, was von mir übrig war in dieser Zeit der Leere, und das Singen von Konzerten war die einzige Möglichkeit, einmal herauszukommen.
Auch später gab es Situationen, in welchen mir Texte in ihrer ganzen Tragweite bewusst wurden – ob es „Kann denn Liebe Sünde sein“ war, „Jeder kleine Spießer macht das Leben mir zur Qual“, als ich mitten in einer Affäre steckte, oder das Italienische Liederbuch von Hugo Wolf, „Geh zu dem Liebchen, das dir mehr gefällt“, als ich einen Laufpass bekommen hatte und wusste, dass am Abend des Konzertes meine „Nachfolgerin“ ihren Platz in den Armen des noch geliebten Mannes einnahm.
Am schlimmsten war das „Stabat mater“ von Pergolesi mit einem Freund und Dirigenten, dessen Sohn kurz zuvor an einem Apfelstück erstickt war – „Vidit suum dulcem natum morientem desolatum“ – „Sie sah ihren geliebten Sohn einsam sterben“, das war kaum zu ertragen.
Zu viel lebendige Emotion blockiert. Das Erlebte muss verarbeitet sein, um es aus sicherer Entfernung künstlerisch verwerten zu können. Der Künstler soll nicht selbst auf der Bühne in Tränen ausbrechen, sondern das Publikum zum Weinen bringen, wie auch der Komödiant nicht über seine eigenen Witze lachen darf.
Zu beten fällt mir schwer, aber die Texte der Arien von Bach, Mendelssohn oder Brahms kann ich mit Hilfe der Musik tief empfinden und ausdrücken. Vielleicht war ich dem Glauben nie näher als während der Krankheit meines Mannes, als mir „Dein Wille geschehe“ im Halse stecken blieb.
Aufgrund meiner eigenen Erlebnisse singe ich gern und oft auf Trauerfeiern, da mir bewusst ist, wie sehr Musik in dieser Situation helfen kann. Eine professionelle Distanz gelingt mir dabei besser als zuvor, denn ich weiß, dass ich eben nicht hilfreich bin, wenn mir die Stimme vor Rührung wegbricht oder der Atem zittert. Hinterher erlaube ich mir, mit den Trauernden zu weinen. Ich werde mit „abgeschlossenen Geschichten“ konfrontiert und stets aufs Neue auf die Frage zurückgeworfen, was im Leben wichtig ist und was am Ende bleibt.
Künstler erleben auf der (Opern-) Bühne stellvertretend für das Publikum Dramen und Romanzen, die im „echten Leben“ in dieser Ausprägung eher selten stattfinden. Die Zuschauer projizieren ihre Wünsche, Träume und Hoffnungen auf das Bühnengeschehen. Sie ahnen, welche Höhen und Tiefen zu empfinden Menschen in der Lage sind, auch wenn sie diese Höhenflüge und Abgründe in ihrem Leben vielleicht nicht selbst erleben. Aber es bleibt die Sehnsucht nach der leidenschaftlichen Liebe, dem vorbehaltlosen Opfer, der bedingungslosen Hingabe, die dem Publikum das Herz öffnen und sie „in eine bessre Welt entrücken“.
Sich damit zu befassen, was Musiker beim Musizieren denken, kann ziemlich ernüchternd sein. Die Kunst macht leider nicht notwendig bessere, bewusstere, tiefer empfindende Menschen aus den Künstlern.
Sowohl Ausführende als auch Zuhörer können abgelenkt sein durch Alltagsthemen oder Sorgen, durch Flirts mit Kollegen, Dirigenten oder dem Publikum, so manchem Ausübenden ist die eigene Wirkung wichtiger als das zu präsentierende Kunstwerk, andere haben mit technischen Problemen, stimmlichen Unzulänglichkeiten, musikalischen Hürden, den „schweren Stellen“ zu kämpfen, da nimmt man den Text und seine Aussage kaum bewusst wahr, und im Dialog mit Instrumenten steht oft das Musikalische im Vordergrund.
So manches Konzert wird als Routine erlebt. Das zwölfte Weihnachtsoratorium der Saison wird vielleicht nicht mit derselben Inbrunst empfunden wie das erste, aber die allerersten Konzerte sind noch von der Sorge geprägt, ob man die Partie „schafft“, ob der Atem für bestimmte Phrasen reicht, die hohen Töne kommen oder die Koloraturen sitzen, da hat es Vorteile, das gängige Repertoire zu kennen und zu wissen, dass man es beherrscht.
Als Musikstudent bereitet man sich auf jeden Auftritt lange und intensiv vor. Das zu gestaltende Werk wird von allen Seiten durchleuchtet, Aufnahmen großer Künstler werden verglichen, jedes Konzert hat immense Bedeutung.
Später lernt man, was Professionalität auch bedeutet: Eine Vorstellung jagt die nächste, da geht es „Von-der-Hand-in-den-Mund“. Wir müssen flexibel reagieren, uns auf jedes Tempo vorbereiten und damit rechnen, dass im Konzert alles anders ist als in der Probe. Wir müssen jederzeit auf eigene Fehler und Missgriffe der Kollegen gefasst sein und dürfen uns durch nichts erschüttern lassen, uns vor allem nicht ärgern.
Eine berühmte Sängerin soll auf die Frage, warum sie nie aufgeregt sei, geantwortet haben: „Ich übe einfach so lange, bis ich es kann!“, ein anderer, nicht minder gefeiert, dagegen: „Der Auftritt macht Spaß – man wird für das Lampenfieber vorher bezahlt.“
Es gibt hervorragende Musiker, die vor jeder Vorstellung weiche Knie haben und andere, die „es“ gar nicht wirklich „können“, die sich aber trotzdem nicht aus der Ruhe bringen lassen.
Und das Publikum – der Zuhörer ist an Stellen, mit denen man sich besonders viel Mühe gibt, möglicherweise gerade abgelenkt. Grobe Patzer oder Kiekser fallen natürlich sofort auf, aber kleinere Schnitzer werden oft nicht bemerkt.
Gebildete Konzertgänger hoffen auf eine tiefere Erkenntnis des ihnen bekannten Werkes, sie haben große Künstler mit ihren Interpretationen erlebt, bringen klare Vorstellungen von Tempo oder Artikulation mit und sind enttäuscht, wenn die Erwartungen auf eine Sternstunde sich nicht erfüllen.
Es kann also an jeder Stelle haken – und doch gibt es immer wieder die Momente, in welchen der Funke überspringt, trotz aller Unzulänglichkeiten des Live-Erlebnisses. Dafür leben wir Musiker, und deshalb gehen Menschen in Konzerte, statt sich immer wieder dieselben perfekten Aufnahmen anzuhören.