24. November 2021
Als ich 1988 meinen späteren Mann Christian kennenlerne, tauche ich in eine große turbulente Familie ein. Deren pulsierendes Zentrum sind Susanne und Klaus. Hier trifft das Klischee zu: Susanne das Herz, Klaus der Kopf. So einem Denker begegnet man nur selten – wie selten, das wird nicht nur mir erst nach mehr als 30 Jahren klar…
Unsere erste Begegnung findet auf einem großen Familientreffen mit mehr als 100 Personen statt.
Es gibt ein Spiel, in welchem jeweils zwei zusammengeloste Personen ihre Verwandtschaftsverhältnisse erkunden sollen. Zuvor erläutert ein kundiger Jurist fachgerecht die Bedeutung der entsprechenden Grade: Verwandt oder verschwägert, gerade Linie oder Seitenlinie, was bedeutet „Cousine 4. Grades“? Kann es eine „Tante 2. Grades“ geben? Das gibt ein großes Hallo und neue Erkenntnisse.
Eine Gruppe junger Leute formt mit ihren Körpern den Namen „Barthe“, leider muss man im Zeitalter der analogen Aufnahmen aber mindestens eine Woche warten, bis das photographierte Ergebnis vorliegt. Das Bild wird später in einem Album von diesem Ereignis zeugen.
Wir besuchen Susanne und Klaus in Kayhude, in ihrem Haus mit dem Pool im Keller. Sanne und Klaus leben umweltbewusst, alkoholfrei, vegetarisch und sie ernähren sich rundum gesund, aber Klaus ist ein großer Eisliebhaber. Unser Geschenk zum Einzug in die gemeinsame Wohnung wird eine Eismaschine sein. „Und für den verwerflichen Zucker nehmt Ihr Honig“, alles mit einem Lächeln – klar und entschieden für sich selbst, undogmatisch anderen gegenüber. Gäste werden mit Wein und Salamipizza bewirtet, ohne belehrende Diskussion.
Ende der 90er leben Susanne und Klaus auf einem Hof nahe Elmshorn, zusammen mit Tochter, Schwiegersohn und vier Enkeln, die stets auch eine Schar kleiner Freunde dabei haben, unterm Dach der alleinstehende Schwager – eine bunte Mehrgenerationen-WG mit einem herrlichen Natur-Schwimmteich, in den hinein man sogar einen Kopfsprung machen kann. Obst, Gemüse und Kräuter werden im Garten angebaut, sogar Verveine gedeiht hier.
Das herrliche Anwesen aufgeben und der Tochter folgen nach München, das hat nicht so gut funktioniert, es geht zurück in den Norden, in eine Dachwohnung mit Blick auf die Elbe in Glückstadt, war das ein Penthouse?
Das ist dann doch zu abgelegen – also zieht man wieder nach Hamburg, in die Großstadt, nach Othmarschen, auch hier mit weitem Blick, eine Enkelin mit Partner in der Nebenwohnung. Es folgt der Wohnungstausch, um ein Zimmer mehr zu haben, falls eine Pflegerin nötig werden sollte.
Susanne und Klaus bleiben auch im hohen Alter flexibel.
Frühere Stationen kenne ich nur aus Erzählungen – Kalifornien, die Wellenbeobachtungen, die Gründung des Max-Planck-Instituts für Meteorologie, deren Direktor Klaus war. Erst spät wird mir bewusst, dass es nicht in jeder Stadt ein solches Institut gibt. Anlässlich seiner Pensionierung darf ich singen, Schuberts „Hirt auf dem Felsen“, im Publikum Helmut Schmidt.
Die Konstante: Sylt, das schmale Endreihenhaus in Tinnum. Von den drei Kindern, neun Enkeln, später acht Urenkeln und zahllosen weiteren Verwandten, Freunden und Bekannten ist immer eine Auswahl vor Ort. So groß ist das Haus gar nicht, aber im Gästezimmer im ersten Stock und im ausgebauten Dachboden werden gern zwei Familien gleichzeitig untergebracht und beköstigt, Fahrräder, Bälle, Spiele und Basteleien für schlechtes Wetter sind inklusive.
Die Gastgeber sind schon früh morgens aktiv, joggend oder in der „Muckibude“, die Besucher dürfen ausschlafen, solange sie mögen. Zum Frühstück gibt es täglich frisch geschnippelten Obstsalat und knusprige Brötchen, abends Fisch oder die legendäre Pizza und das unverzichtbare Eis für Klaus, als Dankeschön laden wir die Gastgeber zum Frühstück in die „Kupferkanne“ ein.
Auf der Promenade in Westerland spielen die „Memories“ Schlager der 50er und 60er Jahre, mein kleiner Sohn ist ihr größter Fan. Noch lange nach dem Urlaub ertönt aus dem Kinderzimmer: „Hey, hey, Hello, Mary Lou“.
Klaus verbringt viel Zeit in seinem Arbeitszimmer, auf der Spur der Verbindung von Relativitäts- und Quantentheorie, wir sind beeindruckt, ein solches „Superhirn“ zu kennen. Susanne hat Mathematik studiert, um seine Berechnungen ausführen zu können.
Es gibt ein „Klima-Spiel“, das liegt immer noch eingeschweißt, müssen wir endlich einmal spielen. Das Thema ist präsent, das Umweltbewusstsein ausgeprägt, es gibt Informationen, aber keine Bevormundung.
In einer Veranstaltung wird der Unterschied zwischen Wetter und Klima kindgerecht aufbereitet, mein Sohn als „der kleine Tok“ stellt dem Wissenschaftler Fragen.
An der Eingangstür hängt die Checkliste für Gäste – Dusche abtrocknen, Vorräte erst aufbrauchen, dann nachkaufen, am Ende bitte durchsaugen und das Gästebuch beachten – wen habe ich da alles mitgebracht: Chrischi natürlich, die Tochter und ihre Freundin, wechselnde Partner, den Sohn mit seinen Freunden, ein französisches Austausch-Mädchen, und alle wurden auf das Herzlichste empfangen und verwöhnt.
Der Sohn ist ein begnadeter Hornist im NDR-Sinfonieorchester. Leberzirrhose, Transplantationen – er hat es nicht geschafft. Susanne nimmt seinen Tod auf sich, schwere Erkrankung, die gleichen Ärzte, die gleichen Krankenhauszimmer wie ihr Knut, Abschied von der Familie, kümmert euch um Klaus, dann die Genesung, ein Wunder.
Chrischi wird als „Ersatz-Sohn“ adoptiert, dann stirbt auch der. Unerschütterlich begleiten mich Susanne und Klaus von da an, helfen, ohne dass ich darum bitten muss, bringen mich am Totensonntag zum Grab, das für mich ohne Auto mit Kleinkind kaum erreichbar ist, hören zu, ohne zu rechten.
Sanne und Klaus sind spontan – wenn ich morgens anrufe, kommen sie abends in meine Konzerte, bei jedem gemeinsamen Singen sind sie mittenmang dabei. Überhaupt das Singen – der Chor hat sie zusammengebracht, auf jedem Familienfest wird gesungen, der Irische Reisesegen und „Denn er hat seinen Engeln befohlen“, der spontan zusammengestellte Chor besteht aus lauter erfahrenen Sängern und Sängerinnen.
Susanne organisiert wundervolle Feste! An ihrem 70. Geburtstag Squaredance in „Sibirien“ – wer bei der Einladung spöttisch die Nase rümpfte, wird mitgerissen durch das fröhliche Miteinander von Alt und Jung. Von der kleinsten Enkelin bis zum 75-jährigen Klaus bilden alle Gäste bunt gemischte Kreise, die unter großem Jubel auch gern einmal durcheinandergeraten, zwischendurch stehen Obst und Trockenfrüchte bereit. Wer erst nachmittags zu Kaffee und Kuchen kommt, ist selbst schuld.
Schiffsfahrten auf der Elbe, nicht mit kleinen Barkassen, nein, es werden ausgewachsene Boote gemietet, zur Goldenen und Diamantenen Hochzeit. Das Jubelpaar strahlt inmitten ihrer zahlreichen Gäste, man verfolgt von Fest zu Fest gerührt die sich stets vergrößernde Schar der Schwieger-Enkel und Urenkel.
Das Geschenk von Klaus für Susanne zur Diamantenen Hochzeit: Eine vier Wochen lange Radtour mit den E-Bikes, Susanne ist über 80, Klaus geht auf die 90 zu.
Anfang 2020 liegen Sanne und Klaus mit fürchterlichem Husten und schwerer Lungenentzündung im AK Altona, wir bangen um ihr Leben, vor allem dem 88jährigen Klaus geht es sehr schlecht. Im Nachhinein vermuten wir, dass die beiden Covid19 hatten, das ist zu dem Zeitpunkt aber noch eine diffuse Bedrohung im weit entfernten China.
Im Lockdown werden die bekannten „Kachelchöre“ aufgenommen – jeder nimmt seinen Part einzeln per Handy auf und sendet ihn an den Chorleiter, der daraus einen Gesamtklang bastelt, da kommen Sanne und Klaus mit dem Rad aus Othmarschen nach Wellingsbüttel, um mit mir zu üben und aufzunehmen.
Zu Klaus‘ 90. Geburtstag Ende Oktober 2021 ist ein großes Fest geplant. Klaus geht es vorher gesundheitlich gar nicht gut, er hat 9 Stents bekommen, aber die OP hat er erstaunlich schnell verwunden, das muss an seiner gesunden Lebensweise liegen. Ich möchte die beiden unbedingt noch vor der Feier in Ruhe besuchen.
Und dann erlebe ich einen der krassesten Momente meines Lebens.
Am 5. Oktober 2021, pünktlich um 11 Uhr, klingle ich an ihrer Tür. Susanne öffnet, „Klaus ist am Telephon, er hat gerade den Nobelpreis bekommen!“
Klaus sitzt auf einem kleinen Stuhl neben der Terrassentür, nur dort hat er Handyempfang, und telephoniert auf Englisch.
Ich begreife überhaupt nichts – spricht er mit jemandem, der den Nobelpreis bekommen hat und sich bei Klaus für seine Unterstützung bedankt? Vielleicht sein Nachfolger Mojib Latif?
Klaus wird weitergeleitet an eine Dame, die seine Daten aufnimmt – Adresse, Telephonnummer, Handynummer – was war jetzt das?
Wir sitzen wie vor den Kopf gestoßen – Klaus fühlt sich wie in einem schönen Traum und wiederholt immer wieder: „Ich weiß gar nicht, wofür!“ Kann das ein Scherz gewesen sein? Dann war er ziemlich gut gemacht, die Vorwahl des Anrufers ist 0046, Schweden…
Ich google „Nobelpreis 2021“ – da erscheint ein Live-Ticker: „Der Preisträger des Nobelpreises für Physik wird heute um 11.45 Uhr bekanntgegeben.“ OK, das käme also hin. Susanne ruft ihre Tochter an, spricht ihr eine Nachricht: „Dein Vater hat gerade den Nobelpreis gewonnen.“ Das scheint uns allen vollkommen irreal!
Um 11.40 Uhr erscheint Liveticker die Meldung, der Preisträger könne wie im letzten Jahr wieder ein Deutscher sein. Das Telephon klingelt erneut, eine warmherzige Männerstimme meldet sich von der „Royal Swedish Academy of Sciences“ und gratuliert Klaus zu seinem Preis. Ich lasse meine Handykamera mitlaufen, diesen historischen Moment möchte ich festhalten, und kurz darauf geht die Meldung über den Ticker – „Physik-Nobelpreis für Klaus Hasselmann“!
Klaus war der erste, der den Einfluss von CO2-Emissionen auf das Klima nachgewiesen hat, den „menschlichen Fingerabdruck“, das war 1976, 1979 wurden die Ergebnisse veröffentlicht.
Kaum ist die Meldung heraus, schon klingeln alle Telephone Sturm – das Festnetz, Klaus‘ Handy, auch das von Susanne. Ihre Tochter hatte mitten in einem Meeting gesessen, das Handy neben sich, in den letzten Wochen stets in Sorge, ob es ihrem Vater gut geht, und nun diese Nachricht! Sie ist natürlich nicht mehr wirklich bei der Sache, die verständnisvollen Kollegen schicken sie los, sie fährt sofort zu ihren Eltern – und das ist ein Segen! Gefühlt nach 15 Minuten klingelt es an der Tür, der erste Reporter, der erste Photograph, Reuters, dpa, die WELT – in Hamburg ist die Presse vor Ort.
„Hast du Zeit für den Universitätspräsidenten?“, Susanne ist überfordert, Klaus kann es gar nicht fassen, er meint immer noch zu träumen, die Tochter koordiniert all die Anrufer und Besucher, charmant und kompetent. Noch Monate später wird sie jeden Tag nach der Arbeit zwei bis drei Stunden Mails und Telephonate mit Bitten um Interviews beantworten.
Die Haushaltshilfe ist gekommen, sie ahnt nicht, was sie hier erwartet. Susanne hat in der Küche alles bereitgestellt für ein Mittagessen, das bereiten Sebahat und ich nun zusammen vor, Cannelloni mit Kürbisfüllung. Wenigstens eine halbe Stunde lang soll der frischgebackene Preisträger sich in Ruhe zum Essen hinsetzen, damit er nicht womöglich umkippt. Ein Reporter bittet trotz der „Sperre“ um Einlass, er sei mit Klaus vertraut und habe Blumen mitgebracht. Man duzt sich, aber weiß Klaus wirklich, wer der freundliche Mann mit dem Chrysanthemenstrauß für fünf Euro ist? In seiner Zeitung wird stehen: „Seine Frau hatte Blumenkohl und Hühnchenschenkel serviert“, das stimmt schon mal gar nicht.
Das Leben hat viele Facetten. An diesem Tag kommt die Haushaltshilfe gerade aus dem Krankenhaus – ihr 20jähriger Sohn hat durch Covid19 einen schweren Leberschaden, er sollte heute operiert werden, die Ärzte konnten aber keinen Zugang legen. Siebenmal haben sie versucht, eine Vene zu finden, bis der junge Mann es nicht mehr aushalten konnte, die wichtige Operation konnte nicht stattfinden.
Mit dieser Sorge kommt die Frau an diesen Ort des Jubels, was für ein Kontrast!
Im Abendjournal, in der Tagesschau, auf der Titelseite zahlreicher Zeitungen – überall sieht man nun den neuen Shootingstar der Klima-Diskussion, einen strahlenden Klaus, der im Max-Planck-Institut den Mitarbeitern zuwinkt, die von allen Etagen herunter applaudieren, Klaus, der Fridays for future lobt, Klaus, der immer wieder seiner Frau dankt.
Drei Wochen später feiert der Nobelpreisträger inmitten von Kindern, Enkeln, Urenkeln und Freunden seinen 90. Geburtstag. Achtzig fröhliche Gäste sind zusammengekommen, um nun gleich zwei freudige Ereignisse zu würdigen. Mir wird bewusst, dass ich in der „Großeltern-Generation“ angekommen bin – all die kleinen Jungs und Mädchen, die 1988 gerade geboren wurden oder kurz danach zur Welt kamen, sind nun mit Partnern und Kindern hier.
Wie immer bei diesen Gelegenheiten wird gut gegessen, gesungen und Kreatives präsentiert.
Ein Enkel berichtet von einer Schlecht-Wetter-Bastelei mit dem Großvater, in welcher ein Mobile des Sonnensystems gestaltet werden sollte – und vom urkomischen Scheitern des Versuches, die Größe der Planeten und ihrer Umlaufbahnen maßstabsgetreu darzustellen.
Ein anderer Enkel hat ein Plakat gestaltet mit einem Photo von Klaus und Instagram-Reaktionen auf die Nobelpreisverleihung, die auf das enorm gute Aussehen des 90jährigen Bezug nehmen – das Lieblingszitat lautet: „Nicht nur das Klima wird immer hotter!“
Eine Enkelin zitiert aus dem vom Jubilar selbst ausgefüllten Buch „Opa, erzähl mal“: Die beste Entscheidung seines Lebens war, dass Klaus Susanne geheiratet hat.
Auf Anregung der Tochter haben viele Gäste Limericks verfasst, die in lockerer Runde vorgetragen und in einem Gästebuch verewigt werden. Auf meinen bin ich ein wenig stolz, er beschreibt eine wahre Begebenheit aus dem ganz frühen Miteinander des Preisträgers und seiner Frau:
Es war ein Preisträger in spe,
der saß mit der Liebsten am See,
sprach beim ersten Kuss:
„Nun ist aber Schluss!
Sei bloß nicht so gierig!“ – Ohje…
Die Anekdote ist verbürgt und wird immer wieder gern erzählt – ein romantischer Sonnenuntergang, eine junge Frau, die ihren Angebeteten verliebt anhimmelt – und die ernüchternde Reaktion des angehenden Wissenschaftlers.
Trotz dieses etwas holprigen Anfanges haben sich an diesem Abend am Meer Zwei gefunden, die man sich ohneeinander überhaupt nicht vorstellen kann, die auch fast 70 Jahre später ihr Miteinander jeden Tag feiern, die eine große Schar wunderbarer Kinder, Enkel und Urenkel in diese Welt geschickt haben und die ein offenes Haus und Herz für unendlich viele Menschen haben.
Von ganzem Herzen wünsche ich den beiden, dass sie eines Tages wie Philemon und Baucis „zur selben Stunde zu sterben, so dass keiner von ihnen des anderen Grab schauen müsse“, und dass sie bis zu diesem hoffentlich noch fernen Tag ein so gesundes, harmonisches und glückliches Leben führen dürfen wir nur irgend möglich!
Nachtrag 2023
Der Nobelpreisträger wird zunehmend tüdelig, dabei bleibt er aber schlank und sportlich, stets gut gelaunt und charmant.
Der Bundespräsident verleiht ihm das Bundesverdienstkreuz, Klaus stürmt schwungvoll nach vorn und bedankt sich: „Ich habe immer viel Spaß gehabt. Haben Sie auch viel Spaß – dann bekommen Sie auch so einen Preis!“
Spontan kommen Susanne und Klaus immer wieder zu meinen Veranstaltungen.
Nach einer missglückten Glaukom-OP ist Susanne auf einem Auge blind, sie kann nicht mehr Auto fahren, aber das erträgt sie tapfer. Zu einem Abend mit Märchen und Musik fahren die beiden per Moia aus Altona nach Eppendorf, in einem Beutel fertig geschmierte Häppchen für ein kleines Picknick, und ein Photo aus dem April 2023 zeigt die beiden vor dem Torhaus, wohin sie mit der S-Bahn und zu Fuß gelangt sind, um meinen Liederabend zu hören.
Nur wenige Tage danach leitet ein Sturz dann völlig unerwartet das Ende ein.
Susanne bricht sich das Becken, und umgehend verliert sie den Lebenswillen, sie scheint bereit, sich zu verabschieden. Aber mit vereinter Liebe holt die Familie sie ins Leben zurück – ihre Töchter und Enkelinnen kommen von überall her, um ihr zu signalisieren, dass sie noch gebraucht und geliebt wird – und dass sie nicht allein ist!
In einer geriatrischen Reha wechseln wir uns ab, sie zu besuchen – und Susanne kämpft diszipliniert gegen Schmerz und Schwäche – nie habe ich jemanden so aufrecht am Gehwagen trainieren sehen. Kinder und Enkelinnen kümmern sich um Klaus, sie stellen kleine Filmchen in die WhatsApp-Gruppe, in welchen Klaus mit den Urenkelinnen tobt und winkt: es gehe ihm gut!
Vier Wochen nach dem Sturz kommt Susanne wieder nach Hause. Jeden Tag kümmert sich die Haushaltshilfe darum, dass sie und Klaus etwas zu essen bekommen und rundum versorgt sind.
Klaus schiebt Susanne im Rollstuhl durch die Schrebergärten, die gelben Azaleen blühen und duften, Susanne kann sich am Frühling freuen. Eisern macht sie ihre Übungen, um wieder auf die Beine zu kommen.
Doch dann gibt es schlechte Nachrichten: Der Beckenbruch hat sich verbreitert, Susanne muss operiert werden!
Auch das übersteht sie tapfer, aber die Schmerzmittel haben massive Nebenwirklungen, Susanne magert immer weiter ab.
Eine weitere Reha soll helfen. Jeden Tag ist die Familie präsent, vor allem die Tochter leistet Übermenschliches! Sie koordiniert die Besuche, sorgt dafür, dass Klaus gut untergebracht ist und seine Susanne täglich sehen kann, sie kümmert sich um einen Platz im Seniorenheim für ihre Eltern, organisiert den Umzug und versorgt Familie und Freunde mit dem aktuellen Stand der Lage.
Auch dort besuche ich Susanne. Es ist erschütternd, wie schnell sie abgebaut hat, unfassbar, dass mein Konzert erst fünf Wochen zurückliegt!
Susanne freut sich über all die Besuche, sie interessiert sich für das, was ihre Lieben beschäftigt, und immer wieder äußert sie sich dankbar über die Fürsorge von Pflegekräften und Ärzten.
Nun zeigt sich, wie besonders mein Verhältnis zu Susanne ist. So viele Menschen möchten ihr beistehen, dennoch ist sie einsam. Es tut ihr gut, dass wir ihre Hand halten, sie in den Arm nehmen und eine kleine Runde im nahegelegenen Wäldchen machen. Da die Besuchszeit aber erst nachmittags beginnt, liegt sie stundenlang allein in ihrem Zimmer.
Familienmitglieder und Freunde rufen an, sie schicken Photos und Nachrichten. Man ermutigt sie, nicht aufzugeben und weiterzukämpfen. Vollkommen vorwurfsfrei und dankbar, dass alle so intensiv für sie da sind, ist Susanne damit aber zugleich überfordert.
Es ist nicht möglich, mit ihren Lieben das zu besprechen, was ihr auf der Seele liegt: Susanne ist bereit, sich zu verabschieden, aber niemand möchte mit ihr darüber reden. Alle wünschen sich, dass Susanne noch möglichst lange lebt, sie spürt die Erwartung all der lieben Menschen, ihnen ihre Dankbarkeit zu beweisen, indem sie wieder gesund wird.
Ich berichte ihr von einem Thema, das mich seit längerer Zeit berührt: vom Sterbefasten. Man stellt das Essen und vor allem das Trinken ein und kann innerhalb weniger Tage schmerzfrei gehen. Dazu muss allerdings nicht nur man selbst, sondern auch die Umgebung bereit sein. Es tut uns beiden gut, so offen darüber zu sprechen. Susanne ist erleichtert, mit jemandem reden zu können, und ich bin dankbar für ihr Vertrauen.
Während ihrer Zeit in der Reha wird die Wohnung aufgelöst und ein neues Zuhause in einem Pflegeheim eingerichtet, Klaus ist „in gewohnter Weise orientierungslos, aber gut drauf“.
An einem Mittwoch kommt Susanne in das neue Zuhause. Es gefällt ihr gut dort, sie dankt ihrer Tochter für ihre Mühe, aber ab Donnerstag möchte Susanne nichts mehr essen und trinken – sie möchte gehen.
Für Sonntag sind wir verabredet, aber ihre Tochter teilt mit, dass Susanne keinen Besuch mehr empfangen möchte.
In einer sehr emotionalen Sprachnachricht verabschiede ich mich in großer Dankbarkeit von Susanne und wünsche ihr alles Liebe auf ihrem Weg. Mit buchstäblich ersterbender Stimme spricht sie mir noch einen Gruß in das Handy der Tochter: „Danke, Liebes, Ich wünsche dir viel Liebe!“
Zwei Tage später kann sie friedlich einschlafen.
Texte und Musik der Trauerfeier hat Susanne zuvor ausgewählt. In der Hauptkirche St. Katharinen, der ehemaligen Wirkungsstätte ihres Vaters, mit der sie ein Leben lang verbunden geblieben ist, kommt die große, vertraute Schar von Enkeln, Urenkeln, Verwandten und Freunden zusammen, sich zu verabschieden.
Ich darf das Hohelied der Liebe, das Gedicht „Ich bin nur auf die andere Seite gegangen“ und den Text des Brahms-Requiems vorlesen, und ich darf singen – den 23, Psalm „Gott ist mein Hirte“ von Dvorak, und gemeinsam mit meiner Tochter und einer Freundin der Familie „Hebe deine Augen auf“ aus dem Elias.
Die Pastorin spricht ein Gebet und erteilt den Segen, die zentralen Momente der Abschiedsfeier, darüber hinaus lässt sie aber warmherzig und uneitel Platz für Musik und Texte, die Susanne ausgewählt hat und von denen sie sich gewünscht hat, dass ich sie lesen und singen möge.
Im Anschluss an die Feier erlebe ich gemeinsam mit meinen Kindern einen der berührendsten, innigsten Momente unseres gemeinsamen Lebens. Eng umschlungen bilden wir ein Dreieck aus Liebe und Trauer, gemeinsam weinend, in tiefer Verbundenheit miteinander und mit Susanne, die mich über viele Jahr und meine Kinder ihr Leben lang liebevoll und nah durch alle Höhen und Tiefen begleitet und unterstützt hat.