Der Kavalier der Straße

2. Mai 2021

Einen Roman sollte man über ihn schreiben, über diesen kleinen Mann mit dem großen Herzen.

An seinem 93. Geburtstag trafen sich alle Kinder und Enkel in Freiburg, ein Wochenende mit ihm zu erleben.
Als drei Wochen später nachts um 2 Uhr das Telephon läutete, wussten wir – er hatte sich leise und still von dieser Welt verabschiedet.

So passte es zu ihm – ein Fest inmitten seiner Lieben, ein vorzügliches Essen im besten Restaurant mit Blick über die Stadt, abends saßen wir im Foyer des Seniorenheimes und lauschten lange seinen Erzählungen, ohne dass jemand unterbrach, um selbst etwas vermeintlich Wichtiges beizusteuern. Alle empfanden die Besonderheit dieses Augenblicks, und wenig später ging er friedlich, ohne jemanden im Moment des Abschiedes zu belasten.

Ich bin dankbar, dass ich ihn durch meinen Freund kennen lernen durfte und dass er mich in seinen letzten beiden Jahren noch in sein großes Herz geschlossen hat.
Bei meinem ersten Besuch stand in der Küche ein Photo von Heinz Rühmann und mir vergrößert auf der Eckbank. Der alte Mann, auf den Gehwagen gestützt, begrüßte mich: „Damit das gleich klar ist, ich bin Richard!“ – „Dann müssen wir uns jetzt aber auch küssen!“ – und schon lagen wir uns in den Armen.
Mein Freund rief, spaßhaft entrüstet: „Dreißig Sekunden!!“

Wir waren wohl die letzten, die in den Genuss seiner legendären Kartoffelpuffer kamen.
Drei Stunden waren wir unterwegs, in dieser Zeit muss Richard ununterbrochen fleißig gewesen sein. Ich stelle mir vor, wie er sich mit dem Rollator zwischen Tisch und Spüle hin und her bewegte, die Kartoffeln geholt, geschält, gerieben und den Teig gerührt hat mit der „geheimen Zutat“ (Haferflocken!). Knusprig gebraten, mit Apfelmus serviert – so köstliche Kartoffelpuffer, mit so viel Liebe zubereitet habe ich nie zuvor und auch danach nie wieder genossen.

An meinem Geburtstag rief er um Punkt Acht Uhr morgens an. Er hatte sich erkundigt, ab wann ich zu erreichen sei und war mein erster Gratulant, mit seiner erstaunlich tiefen Stimme und dem rollenden „r“: „Hier ist Rrrichard!“.
Nur zwei Mal durfte ich mich über seinen Geburtstagsanruf freuen, aber die Freude war so tief, dass ich seinen Anruf immer noch vermisse.

Wie glücklich war er mit dem neuen Tastentelephon, das sich im Keller gefunden hatte und den alten Apparat mit der Wählscheibe ersetzte, die er nicht mehr so gut bedienen konnte. Stolz ließ er sich mit dem „modernen“ Gerät photographieren.

Eisern trotzte Richard dem Alter. Zweimal täglich drehte er seine Runden auf dem Treppenabsatz vor seiner Wohnung.
Im Korb seines Rollators hatte er vor sich eine Streichholzschachtel mit 20 Streichhölzern. Nach jeder Runde wurde ein Hölzchen sorgsam auf die andere Seite gelegt, und Runde für Runde absolvierte er diszipliniert sein „Sportprogramm“.

Im Flur der kleinen Wohnung stand ein großes Portrait seiner Margarete, die er liebevoll „Gretel“ nannte. Jedes Mal, wenn er mit dem Gehwagen an diesem Bild vorbeikam, nickte er ihr freundlich lächelnd zu.
Was für ein Gegensatz zu einem Bekannten, der mir gestand, dass er es als lästig empfand, mit seiner Frau (zu Lebzeiten!) jedes Mal ein paar Worte wechseln zu müssen, wenn sie sich im Haus begegneten – hatte er ihr doch schon morgens einen guten Tag gewünscht, was sollte man da noch sagen!
Margarete habe ich leider nicht mehr kennen gelernt, aber ich konnte Richards tiefe Liebe zu seiner Frau spüren.
Zur Verlobung hatte er ihr ein Herz ausgesägt, es mit einem Kranz aus Fahrradlämpchen beleuchtet und in der Mitte hinter einem kleinen Flügeltürchen ein Photo des glücklichen Paares „versteckt“.
Von Montagereisen nach Algerien schickte er Cassetten nach Hause, auf welchen er für seine Lieben die Geräusche des Landes aufgenommen hatte – das Rauschen des Meeres und den Lärm der Bazare.

Richard lebte mit der behinderten Tochter Geli zusammen. Die beiden waren ein rührendes Team und halfen sich gegenseitig, wo sie nur konnten. Geli kannte ihre Aufgaben. Sie hängte sich am Vormittag ihre Tasche quer über die Brust, steckte den Schlüssel ein und verschwand im Treppenhaus, um wenige Minuten später strahlend mit der Post in der Tasche wieder hochzukommen. Sie liebte ihren Papa und sagte immer wieder in ihrer etwas vernuschelten Sprache: „Hoffentlich lebst du noch lang!“

Das sind die wenigen persönlichen Erlebnisse, die ich mit Richard hatte.
Alles Weitere wurde mir berichtet. Es gibt sicher nur einen kleinen Teil dessen wieder, was dieser immer freundliche, stille, schlichte kleine Mann den Menschen, denen er begegnete, zu geben hatte.

Mit ihren vier Kindern wohnten Richard und Margarete in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Die vier Kinder teilten sich ein Zimmer – zwei große Mädchen, die behinderte Geli und der kleine Bruder.
Eines der Mädchen wünschte sich einen Hund – den Wunsch mussten die Eltern ihr schweren Herzens abschlagen, aber sie fanden, man könne sich doch noch um ein weiteres Kind kümmern. Also ging man ins Waisenhaus und befreundete sich mit einem kleinen Jungen, der fortan die Wochenenden mit der Familie verbrachte. Eines Tages berichtete er von einem Freund, den er gern mitbringen wollte, dieser Freund hatte Zwillingsbrüder – und so vergrößerte sich die Familie um vier weitere Mitglieder. Für Übernachtungen war die Wohnung nicht groß genug, aber zu Ausflügen zum Wohnwagen auf dem Campingplatz, zum Ostereiersuchen und zu Feiertagen wurden die Jungs jahrelang eingeladen.

Richard und Gretel lebten sehr bescheiden, aber sie waren unermüdlich für andere da. Wenn Richard, der als Elektriker bei Siemens arbeitete, abends nach Hause kam, hatte Margarete aufgeschrieben, wer noch Hilfe benötigte und schickte ihn zu Nachbarn, um dort Leitungen zu reparieren oder Lampen zu montieren.
Wenn die Kinder aus der Schule kamen, kam es immer mal wieder vor, dass ein Obdachloser in der Küche saß, dem Margarete eine warme Suppe serviert hatte. Sie war als junges Mädchen schwer krank gewesen und hatte ein „Gelübde“ abgelegt: Wenn sie wieder gesund würde, wollte sie ihr Leben lang Anderen helfen. Dieses Versprechen hat sie gehalten und in Richard hatte sie den richtigen Partner dafür gefunden.

Der Titel „Kavalier der Straße“ wurde Richard von der Badischen Zeitung verliehen. Diese Auszeichnung bekamen Menschen, die sich im Straßenverkehr vorbildlich und hilfsbereit verhalten hatten. Die Geschichte dazu zeigt viel von Richards Umsicht und von seiner nahezu grenzenlosen Hilfsbereitschaft.
Eines Rosenmontags ging Richard mit seiner Gretel und Geli im Schwarzwald spazieren. Dort trafen sie auf eine Familie, deren 16jährige Tochter beim Ski fahren gestürzt war und sich verletzt hatte. Richard ließ seine eigene Frau und Tochter zurück, um sich um die fremde Familie zu kümmern. Vermutlich konnten seine beiden Lieben mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause fahren.
Richard brachte die fremde Familie in die Klinik, wo man einen doppelten Beinbruch feststellte. Er kümmerte sich um die Formalitäten, wartete so lange, bis das Mädchen versorgt war, und organisierte einen Krankentransport.
Mit dem Vater des Mädchens fuhr er zu sämtlichen Sanitätshäusern in Freiburg, um eine Krücke aufzutreiben. Aufgrund des Feiertages waren alle Geschäfte geschlossen, aber Richard gab nicht auf – ein Patient lieh den Männern seine eigene Krücke aus, und erst am frühen Abend war Richard wieder zu Hause.
Ich stelle mir vor, dass Richard in seiner Bescheidenheit keinen besonderen Dank erwartete. Wie ich ihn erlebte, war es ihm ein tiefes inneres Bedürfnis, sich für Andere einzusetzen, bis wirklich alles Nötige erledigt war, aber die Familie schickte ihre Geschichte an die „Badische Zeitung“.
Noch heute prangt auf dem saharagelben Mercedes von 1979 die Plakette: „Kavalier der Straße“ – den Titel hat er wohl verdient wie kaum ein Zweiter!

Diese Momentaufnahmen zeigen viel von diesem warmherzigen, großzügigen, liebevollen Menschen. Es ist schade, dass mir nur wenig Zeit mit ihm blieb, aber die wenigen Begegnungen haben mir viel bedeutet und ich trage Richard tief in meinem Herzen.

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