Das Herzenhören

19. April 2023

Was für ein Buch über die Liebe!

Was für eine Fügung, gerade dieses Buch von Jan-Philipp Sendker nach der „Braut im Park“!
Auch hier eine Geschichte des jahrzehntelangen Wartens, aber was für ein Kontrast!

Julia Win schließt ihr Studium ab, sie feiert ihr Abschlussexamen. Unmittelbar nach diesem Fest verlässt der Vater Tin Win, ein erfolgreicher Showbiz-Anwalt, gebürtiger Burmese, die Familie, ohne sich zu verabschieden, und verschwindet.

Vier Jahre später erhält die junge Frau ein Päckchen von ihrer Mutter, darin findet sie einen fast 50 Jahre alten Liebesbrief ihres Vaters an „Mi Mi“. Vier Jahre nach seinem Verschwinden gesteht die Mutter ein, dass sie den Vater um jeden Preis heiraten wollte, dass der sie aber nie wirklich geliebt hat.
Julia begibt sich auf die Suche nach ihrem Vater.

Die Adresse auf dem Brief führt sie in ein Bergdorf in Birma. Dort sitzt in einem Teehaus ein alter Mann, der Julia seit vier Jahren erwartet hat. Er kennt ihren Namen, er kannte ihren Vater, er kennt sogar Julias Geburtstag und ihr Lieblingsmärchen.
U Ban hat Julia eine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte über die Liebe, die einzige Kraft, an die ihr Vater glaubte.

Julia ist misstrauisch, aber sie muss zugeben, dass sie über die ersten zwanzig Jahre des Lebens ihres Vaters nichts weiß.

U Ba erzählt die erschütternde Geschichte des kleinen Tin Win.
Seine Mutter Mya Mya muss mit fünf Jahren erleben, dass ihr Zwillingsbruder an einem Samstag in einen Fluss fällt und von der Strömung mitgerissen wird. Ebenfalls an einem Samstag brennt ihre Hütte ab, und als ihr Sohn an einem Samstag geboren wird und zwei Wochen später ihre Hühner sterben, meint sie, auf ihrem Sohn liege ein Fluch. Ein Astrologe prophezeit, dass sie sich Sorgen um die Augen des Sohnes machen müsse. An Tin Wins sechstem Geburtstag stirbt auch noch sein Vater, da lässt die Mutter Tin Win ganz allein zurück.
Auf einem Baumstumpf wartet der Kleine tagelang, bis er dem Tode nah ist und ihn die Nachbarin Su Kyi zu sich nimmt.
Tin Win spielt nicht mit den Kindern des Dorfes – seine Freunde sind die Tiere, Insekten und Pflanzen.
Tatsächlich kann er immer schlechter sehen und erblindet im Alter von zehn Jahren.
Der alte Mönch U May unterrichtet den hochbegabten Jungen und lehrt ihn die buddhistischen Weisheiten: Leben ist Leiden, und nur der Mensch selbst kann sich von diesem Schmerz und der Trauer darüber befreien. Der wahre Reichtum des Menschen sind die Gedanken seines Herzens.

Im Kloster entdeckt Tin Win das Mädchen Mi Mi. Mi Mi hat verkrüppelte Füße. Sie wird von ihren Brüdern getragen und kann sich selbst nur kriechend fortbewegen. Auch Mi Mi ist ein außergewöhnliches Kind. Sie hat die Gabe, Menschen durch ihren Gesang zu heilen.
Und nun beginnt eine fast märchenhafte, zarte Liebesgeschichte.
Tin Win und Mi Mi ergänzen sich in vollkommener Weise. Tin Win trägt Mi Mi auf dem Rücken und Mi Mi leitet Tin Win, indem sie in sein Ohr spricht. Die beiden sind wie ein Organismus – sie hat die Augen, er die Beine.
Tin Win hat ein außergewöhnlich feines Gehör. Mi Mi ist der erste Mensch, die ihn ernst nimmt. Sie schenkt ihm die Bilder zu dem, was er hört. Tin Win hört die Spinnen, wenn sie Fliegen verspeisen, er hört ein Küken im Vogelnest, und er kann die Herzen der Menschen schlagen hören. Mi Mis Herzschlag ist für ihn die schönste Musik der Welt.
Beide haben durch ihre vermeintlichen Defizite etwas über das Leben gelernt, das gehenden und sehenden Menschen verborgen ist. „Sie glaubten, dass man mit den Augen sieht. Sie glaubten, dass man Entfernungen mit Schritten überwinden kann.“

Als Mi Mi und ihre Familie eines Tages plötzlich verschwinden, erkrankt Tin Win so schwer, dass man um sein Leben bangt.
Eine Verwandte war plötzlich gestorben, Mi Mi konnte sich nicht verabschieden, aber nach einigen Tagen kommt sie zurück, und durch ihren Gesang führt Mi Mi Tin Win wieder ins Leben zurück. Sie flüstert ihm zu: „Du musst keine Angst haben. Du kannst mich gar nicht mehr verlieren. Ich bin ein Teil von dir, so wie du von mir.“ Von da an sind die beiden unzertrennlich.

Doch eines Tages wird Tin Win abgeholt. Sein Onkel U Saw will ihn in die Stadt Rangun holen. Ein Astrologe hat ihm eine persönliche und geschäftliche Katastrophe prophezeit, die er vermeiden kann, wenn er sich eines armen Verwandten annimmt. Und da fällt ihm ein, dass seine Frau einen entfernten Neffen hat, der blind ist.
In einer letzten Nacht verabschieden sich Tin Win und Mi Mi voneinander, und „es ist, als würden alle Versprechen dieser Welt auf einmal eingelöst“.

Tin Win fährt zu seinem Onkel, aber seine Seele bleibt bei Mi Mi. So schnell wie möglich möchte er zu ihr zurückkehren. Sein Schmerz und seine Kraft sind so groß, dass er sein Herz zum Stillstand bringen könnte, aber er spürt, dass es noch nicht so weit ist.

Tin Win wird einem Arzt vorgestellt, der einen Grauen Star diagnostiziert. Tin Win wird operiert und kann wieder sehen, aber das Sehen ist kein Ersatz für Mi Mis Augen. Für ihn sind die Geräusche lebendiger als alles, was er sehen könnte.
Onkel U Saw hat, seit er sich seines Neffen angenommen hat, einige gute Geschäft gemacht und möchte auf diesen Glücksbringer nicht verzichten. Tin Win ist zu sehr in der burmesischen Kultur des Sich-Fügens verhaftet, als dass er gegen den Willen der Familie zu Mi Mi zurückkehren könnte.
Und so fügt er sich auch, als der Onkel ihm eine Schulausbildung in Rangun bezahlt und ihn zum Studium in die USA schickt.

Jeden Tag hat Tin Win an Mi Mi geschrieben, nie hat er eine Antwort bekommen – alle Briefe hat der Onkel unterschlagen. Die beiden haben einander jahrelang täglich geschrieben, nie kam eine Antwort, und doch haben sie nie aneinander gezweifelt, es gab keine Enttäuschung, keine Vorwürfe, nur unerschütterliche Zärtlichkeit.
„Wie soll ich erklären, dass das, was du mir bedeutest, was du mir gibst, nicht davon abhängt, an welchem Ort der Welt du bist? Dass man nicht die Hand des anderen spüren muss, um einander zu berühren?“
Als Tin Win in die USA abreist, schickt U Saw Mi Mi einen Brief, in welchem er behauptet, Tin Win habe ihn gebeten, Mi Mi zu schreiben, dass er keine weitere Post von ihr wünsche. Mi Mi antwortet voller Dankbarkeit, weil Tin Win vor seiner Abreise noch an sie gedacht hat.

Nach einiger Zeit in den USA spürt Tin Win, dass ihn die Angst verlässt. Er spürt, dass er alles Glück der Welt besitzt. Er liebt und wird geliebt. Bedingungslos. „Er genoss jeden Tag, als wache er neben Mi Mi auf und schliefe neben ihr ein.“

Mi Mi erfährt viele Schicksalsschläge, aber sie strahlt eine Schönheit aus, die darin begründet ist, dass sie liebt und geliebt wird.
Viele Männer verehren sie, aber sie weist alle zurück. Als weise Frau, genießt sie mehr Anerkennung als der Bürgermeister, die Astrologen und Medizinmänner zusammen.

Tin Win weiß, wenn er nach Birma zurückkehrte, wäre er in der Schuld des Onkels. Dieser hat schon eine Frau für ihn ausgewählt und ihn für sein Unternehmen eingeplant. Tin Win könnte nicht zu Mi Mi zurückkehren. Also bleibt Tin Win in Amerika.

Der Onkel stirbt drei Monate vor der Geburt von Julias Bruder. Julia begreift, dass ihr Vater seine Familie in Amerika auf seine Weise geliebt hat und ihr so lange treu geblieben ist, bis sie, das jüngere Kind, ihre Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hat.

Unmittelbar danach fliegt er nach Birma.
Er erzählt in einem Teehaus den ungläubig staunenden Gästen seine Geschichte, dann sucht er Mi Mi auf.
Sie ist schwer krank, man hat sich gewundert, dass sie so lange überlebt hat, und am nächsten Morgen findet ein Verwandter Tin Win und Mi Mi Arm in Arm, sie sind gemeinsam gestorben. Ein Arzt bescheinigt Tin Win Herzversagen.

Schließlich schickt U Ba Julia einige Photos, die Mi Mi mit einem Kind, das zum jungen Mann wird, zeigen. Auf dem letzten Photo erkennt man, dass der Mann U Ba ist.

Diese Liebesgeschichte ist so berührend, weil sie so still und zart ist.
Es begegnen sich zwei junge Menschen, die trotz ihres schweren Leidens alles andere als bemitleidenswert sind. Im Gegenteil – der blinde junge Mann und die junge Frau, die sich nur kriechend fortbewegen kann, haben ein so tiefes Gespür dafür, worauf es im Leben ankommt, dass sie, als sie sich begegnen, sofort wissen, dass sie zusammengehören.
Ihre Verbindung ist so intensiv, dass es keine Bedingungen gibt, keine Vorbehalte, keinen Zweifel.

Diese Liebesgeschichte ist an keiner Stelle kitschig. Sie trifft mitten ins Herz in ihrer Klarheit. Sie beschönigt nichts, sie romantisiert das Leid nicht, sie beschreibt die Liebe so berührend wie den Schmerz.

Diese Liebesgeschichte hat etwas Märchenhaftes, sie ist aber auch fest in der Realität verhaftet.
Tin Win und Mi Mi fügen sich in die Bedingungen, die ihnen das Leben stellt. Am Anfang ihres Lebens trägt jeder für sich ohne zu klagen die Bürde, die das Leben ihnen auferlegt hat, nachdem sie sich gefunden haben, kosten sie vorbehaltlos jeden Augenblick ihrer gemeinsamen Zeit aus, und als diese Zeit in der Realität ein Ende findet, leben sie ihre Liebe weiter, ohne ihr restliches Leben zu entwerten.

Für die Erzählerin Julia ist es anfangs schwer, ihren Vater zu verstehen, durch die behutsame Erzählung von U Ban dringt sie jedoch immer tiefer in seine Seele ein, und sie begreift die Tragik seines Lebens und des Lebens ihrer Mutter, gleichzeitig erkennt sie aber auch, wie reich beschenkt Mi Mi und Tin Win gewesen sind und sie kann die echte, treue Liebe ihres Vaters auch zu seiner amerikanischen Familie würdigen.

Auch der Erzähler und, wie man am Ende begreift, Halbbruder von Julia U Ban hat sich klaglos in sein schlichtes, ärmliches Leben gefügt. Er beeindruckt Julia mit seiner gleichbleibenden, unerschütterlichen Freundlichkeit und inneren Gelassenheit.

U Ba hätte in Großbritannien studieren können, aber er hat sich dafür entschieden, in Birma zu bleiben, um für seine kranke Mutter da zu sein.
Als Julia ihn fragt, warum er nicht wenigstens nach dem Tod seiner Mutter das Dorf verlassen habe, um vielleicht noch auszuwandern, schenkt U Ba uns den Satz, dessentwegen ich dieses Buch so unvergleichlich schön finde: „Wozu? Muss man die Welt gesehen haben? Alle Gefühle, zu denen wir Menschen fähig sind, die Liebe und den Hass, die Angst und die Eifersucht, den Neid und die Freude, finden Sie in diesem Dorf, in jedem Haus, in jeder Hütte. Sie müssen nicht einmal danach suchen. Sie müssen sie nur sehen.“

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