„Corona, die Welt und ich“

10. April 2020

…, das ist der Titel eines Aufsatzes, den mein Sohn im Rahmen des „homeschoolings“ schreiben sollte. Ich wäre nicht ich, wenn mich diese Steilvorlage nicht inspirieren würde.

Seit Anfang des Jahres wird die Welt beherrscht von der Angst vor „Sars-CoV-2“, dem „neuentdeckten Corona-Virus“, und der daraus sich entwickelnden Lungenentzündung „Covid-19“. Nach und nach hat dieses Thema alle anderen verdrängt, wird unser Alltag von den Veränderungen, die diese Pandemie ausgelöst hat, in einem Ausmaß geprägt, das niemand je für möglich gehalten hätte.

Themen gab es eigentlich schon vorher genug in diesem krisengeschüttelten Jahr – zur Erinnerung: Gewaltige Brände in Australien, der wärmste Winter seit Beginn der Aufzeichnungen, der Sturm Sabine, der Klimawandel, die Krise zwischen den USA und dem Iran, der Anschlag eines Rechtsextremisten auf eine Shisha-Bar in Hanau, die Ministerpräsidenten-Wahl in Thüringen und das darauf folgenden Beben der politischen Landschaft, die Bürgerschaftswahl in Hamburg, Flüchtlinge, Syrien, Jemen und, und, und – aber seit März verdichten und konzentrieren sich die Veränderungen in Verbindung mit der  Ausbreitung des Corona-Virus in atemberaubendem Tempo.

Von meiner „Insel“ aus  erlebe ich die Entwicklungen der letzten Monate mit Erschütterung und Betroffenheit, aber zu meinem großen Glück betreffen mich die Ereignisse (noch) nicht persönlich – mir und meinen Lieben geht es gut.

Ich vermisse meine Schüler und die Chöre, weil mir die Begegnungen und die Arbeit mit ihnen so viel Freude machen, und ich bedaure sehr, dass Konzerte abgesagt wurden, weil mir die jetzt anstehenden Programme so am Herzen liegen, aber ich bin wie man so sagt „safe“ – und das kann ich gar nicht hoch genug schätzen!

Mein Haus ist schuldenfrei, damit bin ich in der unendlich komfortablen Lage, mich jetzt nicht um die Zahlung einer Miete oder eines Kredites sorgen zu müssen. Seit ich denken kann, habe ich gut mit Geld umgehen können. Gerade weil ich schwere persönliche Krisen überstehen musste und weil mir immer bewusst war, wie anfällig ich als freiberufliche Sängerin bin, möglicherweise längere Zeit auszufallen, war es mir wichtig, so viel Rücklagen zu haben, dass ich notfalls ein Jahr davon leben kann, um mich neu zu orientieren – denn wenn ich nicht mehr singen kann, kann ich ja normalerweise noch unendlich viel Anderes tun.
Es macht mich ehrlich traurig, zu verfolgen, wie viele Menschen jetzt in echter, existenzieller Not sind, die Ausfälle treffen fast alle meiner Kollegen sehr hart.

„Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben“ – und das im Frühling!
Weltweit reisende Künstler sind plötzlich „zu Hause“, komplett ausgebremst durch den „Lockdown“. Ich stelle mir vor, dass Weltstars, die 100 oder mehr Auftritte im Jahr haben, ihr Zuhause vielleicht gar nicht für dauerhafte Anwesenheit eingerichtet haben. Auch ihre Beziehungen sind nicht mit denen „Normalsterblicher“ vergleichbar – überall auf der Welt haben sie kurze, intensive Kontakte, unvorstellbar, dass sie vielleicht wochen- oder gar monatelang allein „eingesperrt“ sein könnten. Im Idealfall haben sie Partner oder Familie, für die sie nun endlich Zeit haben.
Jetzt, wo nur noch die Versorgung mit dem absolut Lebensnotwendigen „erlaubt“ ist, werden wir auf das zurückgeworfen, was wirklich wichtig ist. Wir besinnen uns auf die Natur und erleben, zu welchen Menschen wir wirklich gehören. Man fragt sich, ob der Wahnsinn des Ständig-auf-der-ganzen-Welt-unterwegs-Seins „nach Corona“ wieder aufgenommen werden kann oder sollte, der Einschnitt fühlt sich gerade sehr grundsätzlich an.

Der Wunsch, sich „trotzdem“ künstlerisch auszudrücken erzeugt viel Kreativität – aus seiner „Enklave“ sendet so mancher Bilder, Lieder, Filmchen zum Mut machen, zum Trost, zum Schmunzeln oder auch als böse Satire. Online-Chöre entstehen, man streamt „Wohnzimmerkonzerte“ – auch das Bedürfnis nach Verbundenheit und nach dem Teilen von „Kultur“ sind elementar.

Viele (Privat-) Lehrer unterrichten jetzt per Skype oder Facetime, dafür sind die Schüler dankbar und die Lehrer erhalten wenigstens einen Teil ihres Einkommens.
Für meine Arbeit finde ich Skype klanglich unbefriedigend und ich kann meine Schüler auf diese Weise nicht begleiten, aber ich kann mir auch erlauben, darauf zu verzichten – mir ist bewusst, dass das eine echte Luxus-Entscheidung ist!

Nun stehen die Fabel von Ameise und Grille und die Kindergeschichte „Frederik“ nebeneinander – hier die fleißigen, vorsorgenden Ameisen und die Grille, die den ganzen Sommer über gesungen hat und selbst sehen soll, wie sie singenderweise durch den kalten, mageren Winter kommt, dort Frederik, der Farben und Sonnenstrahlen gesammelt hat und in der dunklen, kalten Höhle seinen Freunden das Herz erwärmt.

Es ist die große Stunde der Zyniker, die über die analfixierten Deutschen lästern und nach ihren Milliarden schreien, möglichst unbegrenzt und unbefristet, und über den „dämlichen Leithammel“ spotten, der seinen Beitrag zur „Herdenimmunität“ leistet. Es ist die Erkenntnis des ganz und gar unchristlichen Wunsches, das Virus möge doch endlich das selbsternannte „Genie“ jenseits des Großen Teiches erwischen. Man mokiert sich hämisch über Reisende, die sich von Sondermaschinen aus ihren Urlaubsparadiesen ausfliegen lassen, der medizinischen Rundumversorgung entgegen, von welcher dortige Einheimische nicht einmal träumen können.
Nach Neuseeland zu jetten, um anschließend Freunde in Thailand zu treffen oder für eine Konferenz nach China zu fliegen, um Meilen zu sammeln, wird vermutlich nie wieder selbstverständlich sein.

Was tun wir unseren Kindern an! „Fridays for future“ scheint ewig her zu sein, man darf gespannt sein, ob die aus der Not geborene Reduktion der CO2-Emissionen  nach Beendigung des Shutdowns weiter trägt.
Die Schulkinder sitzen täglich viele Stunden an den elektronischen Medien, um sich selbständig anzueignen, was ihnen sonst die Schule „serviert“. Man mag sich kaum vorstellen, wie es Familien geht, die in kleinen Wohnungen stecken, die Details kann sich jeder selbst ausmalen.
Demnächst sollen die Kinder in die Schulen zurückkehren, um sich zu infizieren, „Frauen und Kinder zuerst“, damit die Älteren und Vorerkrankten geschützt werden, nachvollziehbar, aber krass. Und die jetzt angehäuften Schuldenberge werden noch unsere Enkel abtragen müssen.

Unsere Nachbarin hat in diesen Tagen ein Baby bekommen. Die Geburt musste sie weitgehend allein überstehen – der Vater des Kindes wurde nur für jeweils eine Stunde zu seiner gebärenden Frau gelassen, zwischendurch musste er immer wieder gehen. Um das Krankenhaus herum waren natürlich keine Lokale geöffnet, in welchen er sich hätte aufhalten können, ein Wunder, dass er den entscheidenden Moment miterleben konnte.
Etwas Gutes hat die Krise aber für die junge Familie: Der Vater ist im Homeoffice. Wenn er vor wenigen Monaten seinen Chef gebeten hätte, zu Hause arbeiten zu können, um seine Frau mit dem Baby zu unterstützen, hätte der ihm höchstens einen Tag pro Woche genehmigt.

Und die andere „Schwelle des Lebens“ – Alte und Demente sind auf grausame Weise vom Kontaktverbot betroffen – sie dürfen in ihren Heimen nicht mehr besucht werden. Wie sollen sie verstehen, dass ihre Partner, Kinder oder Enkel sie plötzlich vergessen zu haben scheinen…
Sterbende sind nun allein, ihre Angehörigen müssen aus der Entfernung Abschied nehmen. Eine entfernte Verwandte in Brüssel starb mitten in der Zeit der Kontaktbeschränkungen. Ihr Mann saß verzweifelt weinend zu Hause, weil ihm der Zutritt zum Heim verwehrt war, ihre Kinder hatten sich als Krankenschwestern „verkleidet“, um sie begleiten zu können.
Am Ende ist es ihnen gelungen, sie nach Hause zu holen, so dass sie ihren letzten Weg friedlich im Kreise ihrer Lieben gehen konnte. Das ist in dieser Zeit erschütternderweise kaum mehr möglich.
Auch Trauerfeiern dürfen nur im allerkleinsten Kreis „gefeiert“ werden, direkt am Grab, ohne Orgelmusik oder Blumendekoration.
Auf dem Ohlsdorfer Friedhof sah ich eine kleine schwarzgekleidete Schar und hatte den Impuls, hinter einem Baum heraus ein „Ave Maria“ zu singen, als „tröstliches Geschenk“, das habe ich natürlich gelassen, es wäre möglicherweise unangebracht oder peinlich gewesen…
Die Trauerfeier unserer Verwandten wird aber für die Angehörigen digital übertragen werden, dadurch können auch Menschen, die sonst den Weg nach Belgien nicht hätten nehmen können, die Feier verfolgen. Die Veränderungen im Zuge der Einschränkungen haben also auch ungeahnte Öffnungen und Möglichkeiten zur Folge.

Mein allerbester Herzens-Freund ist Abt eines Benediktinischen Klosters in den Niederlanden, von dort werden die Karfreitags- und Oster-Gottesdienste gestreamt. Auf diese Weise komme ich in den Genuss, Zeremonien zu erleben, die mir in den langen Jahren unserer Freundschaft immer verborgen geblieben sind

Helmut Schmidt soll gesagt haben: „Charakter zeigt sich in der Krise“ – zumindest teilweise ist es möglich, der Situation durch Aufmerksamkeit und Einfühlung noch Positives abzugewinnen.
Eine Nachbarin klagte, nun sei auch noch ihr Internet ausgefallen – aber man könnte die Geschichte auch anders erzählen: Wie großartig, dass es ihr selbst in dieser Zeit gelungen ist, innerhalb weniger Stunden die Telekom zu erreichen, die den Schaden behoben hat.

Ein blinder Freund, 80 Jahre alt, hat im Dezember Abschied von seiner lieben Frau nehmen müssen. Er sitzt jetzt allein in seiner kleinen Wohnung, aufgrund einer Lungenerkrankung darf er das Haus nicht verlassen – und er schickt Anderen Musik zur Aufmunterung und erkundigt sich per Mail und Telephon, wie es ihnen gehe.

Mein 82jähriger Vater hat einen Email-Verteiler für seinen Englischkurs eingerichtet, über welchen die Teilnehmer (Senioren) nun ihre Erlebnisse austauschen – auf Englisch. Jeden Tag geht er mit meiner Mutter spazieren, hat ihr eine warme, wasserdichte Vlies-Hose gekauft, damit sie sich auch bei schlechtem Wetter zum Ausruhen auf eine Bank setzen kann, nachmittags spielt er mit ihr „Memory“ (von meiner Tochter und mir gebastelt, mit Photos der Familie) und abends spielt er ihr auf dem Klavier vor. Es erleichtert mich sehr, dass es den beiden so gut geht, so kann ich es gut aushalten, sie nicht zu besuchen.

Ja, und ich genieße meine „Insel“. Meine Häuslichkeit ist legendär. Das elterliche Reise-Gen ist komplett an meinen Bruder gegangen, der ist Pilot, ausgerechnet seit März Geschäftsführer von SunExpress, und sorgt sich um das Wohl und die Zukunft von 4000 Leuten, da geht mir jede Schadenfreude ab.
Seit Jahrzehnten muss ich mich rechtfertigen, dass ich weder privat noch beruflich gern reise. Eine Therapeutin nannte mich spöttisch „Aschenputtel“, weil ich so wenig in die Welt dränge, Facebook, Youtube, Twitter oder Instagram ablehne, sie vermutete, ich wartete heimlich darauf, „entdeckt“ zu werden – wie gut es mir in meiner „Asche“ geht, hat sie wohl nicht nachvollziehen können…
Der Klimawandel hat mir ein wenig mehr Verständnis beschert, nun bin ich „modern“. Unter den aktuellen Einschränkungen leide ich nicht, für diese Krise bin ich wie geschaffen.

Mein Leben ist unendlich abwechslungsreich! Ich bin nicht allein, und ich habe über meinen engsten Kreis hinaus auch jetzt täglich intensive Begegnungen mit Menschen. Wenn jetzt niemand kommen darf, gibt es die reizenden Nachbarn, Verkäufer oder Spaziergänger, natürlich in angemessener Distanz, es gibt Briefe, Mails, WhatsApp und Telephon…
Und auch das Alleinsein schreckt mich nicht – schon immer habe ich getönt, man könne mich hier sehr lange einsperren, ohne dass ich irgendetwas entbehre, nun ist es soweit…
Solange ich mein Klavier, Noten, Bücher, CDs, Filme, meinen Laptop und Beine zum Radfahren oder Laufen habe, könnte ich täglich auf die Knie gehen, wie gut es mir geht!

Ich sitze hier gut beheizt, mit fließend warmem Wasser, Strom und Internet, gut versorgt, auch medizinisch, Müllabfuhr und Post funktionieren, unsere Regierung macht einen großartigen Job, die meisten Menschen verhalten sich vernünftig, jetzt ist sogar der Frühling gekommen, was will ich mehr!

Bei den Karl-May-Festspielen kommt unweigerlich die „Ansprache für den Weltfrieden“, ohne einen versöhnlichen Schluss kann auch ich nicht aufhören, also:

Von Herzen hoffe ich, dass aus dieser so abgründigen Krise am Ende etwas Gutes erwächst. Es platzen gerade viele Blasen gleichzeitig, ein Ende ist nicht absehbar. Es zeigt sich aber, dass diese umfassendste aller Krisen nicht von Einzelkämpfern oder Egoisten bewältigt werden kann, sondern nur, wenn wirklich die ganze Welt zusammensteht, und da sind wir hoffentlich lernfähig und in guten Händen.

Lasst es auch Euch gut gehen, bleibt gesund und behütet und bewahrt Euch Eure Lebensfreude!

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