Es folgen ein paar Begebenheiten aus meinem „frühen musikalischen Leben“.
Mein Vater scheint schon früh damit gerechnet zu haben, dass
ich eines Tages einen Künstlernamen brauchen könnte. Er liebte es, mir als kleines
Kind eine „Zwiebelfrisur“ zu machen, dafür fasste er meine schütteren Haare
oben auf dem Kopf zusammen.
Dann fand er, ich sähe aus wie eine echte „Könstlerin“ und nannte mich: „Jolita
Alberto, die große Johlende!“
Jahrzehnte später, frisch verheiratet, war
ich auf einer Konzertreise in Lyon. Dort meinte ein Tenor-Kollege, es
sei schade, dass ich meinen „Mädchennamen“ Albers einfach abgelegt hatte – ich
müsste mich doch „Schülie Bacht-Albääch“ nennen!
Im Alter von 11 Jahren habe ich mit dem Geigenunterricht
begonnen. Ein paar Jahre später gelang es mir, Mitglied im
Albert-Schweitzer-Jugendorchester zu werden. Hinten in der zweiten Geige durfte
ich Sinfonien von Beethoven, Brahms und Bruckner und viele große Konzerte mit
Solisten aus den eigenen Reihen mitspielen.
Es war damals mein Traum, Geige zu studieren. Zwei Faktoren hielten mich dann
aber doch davon ab, eine Orchesterlaufbahn einzuschlagen.
Zum einen hatte ich das Glück oder auch Pech, dass sich in diesem Orchester
unfassbar gute Violinisten tummelten – als Konzertmeister wechselten sich
Michael Mücke, welcher später mit dem Trio Fontenay weltweit bekannt wurde, und
Christian Tetzlaff ab. Letzterer war auch in meinem Musik-Leistungskurs. Er
spielte im Alter von 15 Jahren mit uns das Brahms-Violinkonzert und stellte uns
Bachs E-Dur-Partita mit ausführlichen musikalischen und technischen
Erläuterungen vor.
Neben den beiden gab es noch weitere phantastische Instrumentalisten, die
später bei den Berliner Philharmonikern, in anderen renommierten Orchestern
oder in höchst professionellen Kammermusikensembles landeten. Mir war schnell
klar, dass ich dieses Niveau nie erreichen könnte.
Weniger klar war mir, dass es nicht in jedem Jugendorchester, in jeden Musikleistungskurs
so wunderbare Solisten gab, dadurch waren diese frühen Begegnungen mit
hochkarätigen Musikern einerseits bereichernd und prägend, andererseits
durchaus einschüchternd.
Das zweite Hindernis bei meiner Berufswahl war, dass ich meine Geigenlehrerin
fragte, ob sie mir ein Violinstudium zutraute.
Sie spielte im NDR-Sinfonieorchester und war damals erst die zweite Frau dort –
Anfang der 80er Jahre war das noch eine echte Sensation. Daher wusste sie um
die hohen zu überwindenden Hürden und reagierte zurückhaltend. Sie schlug vor,
dass ich ein Vierteljahr lang jeden Tag drei Stunden Geige üben sollte.
Dieses Projekt hielt ich keine Woche durch und beschloss, dann lieber Gesang zu
studieren in der Annahme, dass man dann nicht üben müsste.
Leider verkannte ich dabei, dass man als Sänger zwar mit Fleiß allein nicht so
viel erreicht, dass die Arbeit aber auf anderer Ebene durchaus auch
anspruchsvoll ist und man sein Instrument niemals weglegen kann – das wurde mir
jedoch erst viel später bewusst.
Mein erster honorierter Auftritt war 1981 eine Art „Event“,
allerdings gab es diesen Ausdruck damals noch nicht.
Es hatte eine wilde Party stattgefunden, im Laufe derer der befeierte Raum
komplett verwüstet worden war – es lagen umgestürzte Gläser, zerbrochene Teller
und leere Flaschen herum, die Vorhänge waren heruntergerissen, die Möbel
umgefallen und das Bett war zusammengekracht.
Dieser Raum wurde in einer nächsten Party als Kunstobjekt ausgestellt. Inmitten
des Raumes sollte eine vornehm gekleidete Person stehen und Geige spielen,
während um den Raum herum, der mehrere Zugänge hatte, Leute standen und dieses
Mal eher gepflegt Getränke zu sich
nahmen, dabei ab und zu in den Raum spähend und die Verwüstung bestaunend.
Ich spielte in einem langen schwarzen Samtmantel meiner Mutter die kleinen,
unspektakulären Stückchen, die ich im Geigenunterricht geübt hatte, aber es
ging wohl eher um den optischen Eindruck als um einen virtuosen Auftritt.
Als Dankeschön durften ich mir eine Schallplatte aussuchen, und mein erstes
Honorar bestand in der Platte „The Wall“ von Pink Floyd.
Erste Gesangs-Erfahrungen sammelte ich im Chor des
Albert-Schweitzer-Gymnasiums.
Dabei war es mein Ehrgeiz, die Lauteste zu sein. Um nicht in der Masse der
Soprane und Altistinnen unterzugehen, reihte ich mich also im Tenor ein.
Wie in jedem Chor, gab es auch hier nur wenige Exemplare, sodass mein Rechnung
aufging. Ich brüllte so laut ich konnte und kann mich heute noch gut an das
Gefühl erinnern, wie es ist, die Bruststimme mit Gewalt bis zum Anschlag
aufzuziehen. Seltsamerweise hat sich der Chorleiter nie beschwert. Es hat mich
Jahre gekostet, mir das Drücken wieder abzugewöhnen.
Für Konzerte hatten wir Unterstützung einiger Sänger aus der Kantorei St.
Katharinen, mit denen ich sehr gern zusammensang.
Viel später, als ich schon studierte, engagierte mich Thomas Dittmann erstmals
für eine Bach-Kantate, natürlich als Sopranistin. Als ich dort vor dem Chor
stand, erklang die Stimme eines meiner ehemaligen Mitstreiter: „Wieso singt die
jetzt Sopran? Die ist doch Tenor!“
Die Mutter einer Freundin hatte eine Kirchenmusikstelle in
einer kleinen Kirchengemeinde.
Meine Freundin spielte Geige und ich wollte unbedingt einmal „Erbarme dich“ aus
der Matthäuspassion singen. Die Mutter war zu allen Schandtaten bereit, und so
haben wir im Gottesdienst diese überirdisch schöne Arie musiziert – es muss
schrecklich gewesen sein!
Ich war ja schon nicht wirklich ein Tenor, aber ich hatte auch ganz bestimmt
kein Alt-Timbre.
Meine Freundin spielte ziemlich unsauber und ihre Mutter verpasste einige Einsätze,
aber der Pastor und die paar älteren Herrschaften, die den Gottesdienst
besuchten, protestierten nicht. Glücklicherweise gibt es keine Aufnahme von
diesem denkwürdigen Ereignis.
Meine erste Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule versuchte
ich mit einem sehr durchwachsenen Repertoire. In den Aufnahmebedingungen wurden
eine „gesunde stimmliche Veranlagung und der auswendige Vortrag von drei
Stücken“ verlangt. Das trauten meine damalige Gesangslehrerin und ich mir
problemlos zu.
Ich übte also „Es ist vollbracht“ aus der Johannespassion von Bach, die „Ariette
der Irmentraut“ – „Welt, du kannst mir nicht gefallen, hast dich förmlich
umgekehrt, von den heut’gen Männern allen ist doch keiner etwas wert!“, sowie
ein Lied von Schubert, das ich vergessen habe.
Da meine Lehrerin nicht Klavier spielen konnte, übte ich einmal mit einem
Bekannten meiner Lehrerin meine Stücke.
Dieser Bekannte sah mit seiner grauen Haartolle aus wie Mozart persönlich, als
bekennender Freimaurer war das vermutlich kein Zufall.
Er lebte zusammen mit seiner Mutter und zeichnete sich durch ein gutes Herz
aus. Das ging so weit, dass er sich von seinem Weihnachtsbaum nicht trennen
konnte. Als ich bei ihm auftauchte, war es fast Ostern, aber der reich
geschmückte Baum mit seinen inzwischen spärlichen Nadeln gefiel dem Pianisten immer
noch so gut, dass er es einfach nicht übers Herz brachte, ihm den Todesstoß zu
versetzen.
So sang ich also meine Arien unterm Christbaum, der Herr war begeistert, er
fand nach jedem Stück: „Du hast eine echte Bach-Stimme!“ „Du hast eine
Mozart-Stimme!“ – und so ging ich mit großem Selbstbewusstsein in diese Prüfung.
Allerdings fiel mir, als ich in der Prüfung auf der Bühne im Opernstudio der
Musikhochschule stand, plötzlich auf, dass ich nicht wusste, was ich mit meinen
Händen machen sollte – an der Geige oder am Klavier sind die ja ständig
beschäftigt, nun stand ich da oben und krampfte mich in meinem weiten Rock fest.
Als ich meine Stücke ansagte, ging ein freudiges Raunen durch die große
Kommission: „O, ein Alt!“
Und ich hob mit meiner schmalen Sopranstimme an zu singen: „Es ist vollbracht!“
Vor mir sah ich kein freundliches Gesicht, aber links am Rand saß ein
studentischer Vertreter, der nett aussah, also wandte ich mich nach links
außen.
Nach der Arie – Schweigen.
Die Pianistin begann ihre Akkorde für die „Irmentraut“ im Wechsel zwischen linker und rechter Hand „1-und-2-und-1-und-2-und“,
ich winkte ihr, sie möge etwas schneller spielen, neuer Versuch, immer noch zu
langsam, am Ende hatte sie „mein Tempo“ angeschlagen und ich raste durch die
Arie so schnell wie man es bestimmt noch nie gehört hat – „Weltdukannstmirnichtgefallenhastdichförmlichumgekehrt,
vondenheutgenmännernallenistdochkeineretwaswert“.
Nach Abschluss meines Vortrages wurde ich gefragt, ob ich einen Lehrer wüsste, bei
dem ich gern studieren wollte. Ich nannte Judith Beckmann, damals die
gefragteste Professorin an der Hochschule. Die war nicht anwesend, also hatte
ich den Namen Gisela Litz im Kopf, es nickte mir dann eine ältere Dame mit
Hakennase und strengem Gesicht bemüht freundlich zu, aber diese Aufnahmeprüfung
habe ich zu meiner großen Überraschung nicht bestanden.
Ich studierte also erst einmal Musikwissenschaften, nahm nebenbei
Privatunterricht bei Frau Litz und im zweiten Anlauf zwei Jahre später gelang
mir die Prüfung.
An der Musikhochschule gab es Tanzunterricht für alle
Sänger. Unser fabelhafter Tanzlehrer, ein schmaler Amerikaner, war sicher oft
verzweifelt, dass er all die übergewichtigen Sänger dazu bringen musste, sich
zu bewegen.
Wenn sich jemand die Schritte beim Jazztanz einfach nicht merken konnte, riet
er uns, die Arme wie zum Empfang von Applaus auszubreiten und unerschüttert zu
strahlen, und mit seinem süßen amerikanischen Akzent empfahl er: „Mach
Jazzgesicht und beweg irgendwas!“
Während meine Kommiliton*en ständig Schallplatten berühmter
Sänger und Sängerinnen hörten und sich damit befassten, wie diese ihre Lieder
und Arien gestalteten, war meine musikalische Prägung durch meine Orchester-
und Kammermusik-Zeiten sehr nachhaltig. Bis heute liebe ich die Sinfonien von
Mahler, Brahms oder Bruckner, und die Klaviertrios oder das Oktett von
Mendelssohn berühren mich mehr als jede Oper.
Eine Freundin versuchte, sich mit mir auszutauschen, als sie aber merkte, dass
ich keine der von ihr verehrten Künstlerinnen kannte, fragte sie irritiert,
welche Sängerinnen ich denn toll fände, woraufhin ich spontan ausstieß: „Ich
steh nicht auf Gesang!“
Eine Ausnahme war Jessye Norman.
Diese großartige Sängerin begeisterte mich, vor allem ihre Aufnahme mit
Orchesterliedern von Richard Strauss fand und finde ich unerreicht.
Jessye Norman gab Ende der Achtziger Jahre ein Konzert in der Hamburger
Musikhalle. Ich stand an einer Säule im zweiten Rang und staunte, wie mühelos diese
gewaltige Person den großen Raum mit ihrer Persönlichkeit und ihrer Stimme
füllte.
Das Publikum tobte und im Anschluss an das zweistündige Programm gab Jessye Norman
noch eine Stunde lang Zugaben.
Danach schwebte ich in anderen Sphären und hatte den Wunsch, was sonst
überhaupt nicht meine Art ist, diese besondere Künstlerin einmal aus der Nähe
zu sehen. Ich wartete also am Bühnenausgang, aber sie kam und kam nicht heraus.
Es kam aber eine Frau aus dem Publikum, die berichtete, dass Jessye Norman in
ihrem Künstlerzimmer noch Autogramme verteilte, also fasste ich mir ein Herz
und ging durch den Bühneneingang in das Gebäude (das war damals noch problemlos
möglich, ich hatte mich oft genug mit meinem Geigenkasten unter dem Arm zu
NDR-Proben hineingeschlichen).
Und tatsächlich – da saß SIE leibhaftig, ein breites Sofa ausfüllend, die Schlange
war inzwischen, kurz vor Mitternacht, abgebaut, ich stellte mich also als
letzte hinten an.
Die große Diva sprach fließend Englisch und Deutsch und ging auf jeden
einzelnen Gast ein.
Vor mir stand eine Frau, die fragte ganz aufgeregt: „Wir haben ein Konzert mit
unserem Schulchor, könnten Sie da singen?“ – ich war fassungslos, aber die
Reaktion war freundlich: „Wann soll das stattfinden?“ und, als das Datum
genannt wurde, bedauerte die berühmte Sängerin: „Da habe ich leider keine Zeit.“
Ich stand also als letzte vor dieser beeindruckenden Person. Mir blieben die
Worte im Halse stecken, ich brach in Tränen aus und fiel ihr um den Hals (so
erinnere ich es zumindest).
Immerhin gelang es mir, ihr meine Noten mit Mozart-Liedern für ein Autogramm
unterzuschieben, die „Abendempfindung“. Jessye Norman bekundete, dass sie
dieses Lied ebenfalls sehr liebe und schreib mir: „Good luck!“ darauf.
Tagelang schwebte ich wie auf Wolken und bis heute denke ich jedes Mal, wenn
ich die „Abendempfindung“ singe, und das ist wahrlich oft gewesen, an die
kurze, aber intensive Begegnung mit dieser besonderen Künstlerin.
Schon bald nach Beginn meines Studiums wurde ich für Konzerte
in Kirchen engagiert.
Es gab Zeiten, ich welchen ich so viele Angebote hatte, dass ich an manchen
Tagen zwei Konzerte hintereinander gesungen habe.
Als mich der legendäre Thomas Dittmann in St. Katharinen bat, sein letztes
Weihnachtsoratorium zu singen, hatte ich schon ein Konzert in einer anderen
Kirche angenommen.
Ich habe nie ein Engagement für ein „besseres“ abgesagt, also fragte ich den Organisten
der kleineren Kirche ganz ehrlich, was ich nur tun könnte – und er verlegte
sein Konzert auf 20 Uhr, sodass ich um 17 Uhr in St. Katharinen singen und
trotzdem das andere Konzert noch singen konnte. In der langjährigen Geschichte
der „Schmalenbeker Abendmusiken“ kam es meines Wissens nur einmal vor, dass ein
Konzert um 20 Uhr beginnt – Danke, lieber Clemens!
Ein anderes „Doppelengagement“ verlief weniger glücklich.
Dieses Mal war von vornherein klar, dass das erste Konzert in Hamburg um 17
Uhr, das zweite in Lübeck um 20 Uhr stattfinden sollte, was eigentlich kein
Problem sein sollte. Allerdings fanden auch die Proben am selben Tag statt. Dem
Lübecker Chorleiter hatte ich gleich gesagt, dass ich 30 Minuten später zur
Probe kommen müsste, das gestand er mir am Telephon auch zu. In dem Vertrag,
den er mir anschießend schickte, stand aber die ursprüngliche Probenzeit. Diese
verbesserte ich und schickte den Vertrag mit einem entsprechenden Brief zurück.
Am Probentag kam ich in der Kirche wie „verabredet“ an, da kam mir schon eine
Kollegin entgegen – „Wir warten schon auf Dich!“ Ich entschuldigte mich – ich
hätte doch gesagt, dass ich nicht früher kommen konnte, da fuhr mich der Dirigent
an: „Das wissen jetzt alle!“
Wir musizierten den „Paulus“ von Mendelssohn und die Altistin hatte mich
gebeten, ihr ein paar Rezitative zu überlassen, da sie sonst sehr wenig zu
singen gehabt hätte. Es wurde ein Rezitativ angekündigt, ich dachte, das sollte
die Altistin singen, dem war aber nicht so und wieder drehte sich der
Chorleiter gereizt zu mir um: „Frau Barthe!!“
Einige Stücke später stand ich bereit für einen Einsatz, aber das Orchester
spielte einen falschen Akkord. Ich fragte irritiert: „Wie bitte?“ – das brachte
das Fass zum Überlaufen – „Wenn Sie aufgepasst hätten, wüssten Sie, wo wir
sind!“
Keines dieser Missverständnisse konnte ich auflösen, in dieser Kirche hatte ich
somit zum ersten und letzten Mal gesungen…
Mit „meiner“ Harfenistin trat ich in einem Altenheim auf. Wir musizierten Lieder von Gabriel Fauré und der Höhepunkt des Liedes „Les Berceaux“ war ein lang gehaltenes g‘‘. Mitten in meinen Ton hinein schimpfte eine empörte alte Dame: „Die soll nicht so laut singen!“ – vermutlich waren die hohen Frequenzen zu gewaltig für ihr Hörgerät…
Ebenfalls mit meiner Harfenistin hatten wir ein
„Kinderkonzert“ vorbereitet, welches an einem Nachmittag mitten in der Woche
stattfinden sollte. Leider war die Werbung nicht gut gelaufen, so dass sich im
Publikum nur die Veranstalterin mit ihrem lustlosen kleinen Sohn und meine
beste Freundin mit ihrer gehörlosen Tochter einfanden.
Wir haben dann für die beiden Frauen ein etwas verkürztes Programm gespielt und
zumindest die beiden Frauen haben sich gefreut.
Mein Lieblingsdirigent beim NDR-Chor war Robin Gritton.
Dieser feine Mensch stand morgens oft versonnen vor dem Chor, schlug seine
Stimmgabel an, legte den Kopf ein wenig schräg und verkündete freundlich:
„Heute ist das Tempo so…“
Ein anderer Dirigent begann seine Proben mit den Worten: „Wir schreiben…“, und
dann wurde akribisch Takt für Takt diktiert, wo geatmet, auf welcher Zählzeit
Konsonanten abgesprochen, wann lauter oder leiser gesungen werden oder ob es
Verzögerungen geben sollte.
Beides hatte seine Qualität, es kam bei den Kollegen aber unterschiedlich gut
an.
Im Weihnachtsoratorium von Bach war ein Bassist für einen erkrankten Kollegen eingesprungen. Nach dem Konzert, in welchem der Bass ja eine durchaus auffällige Partie zu singen hat, kam der Dirigent zu uns in die Sakristei, gratulierte uns Solisten und schüttelte dem Kollegen freundlich-irritiert die Hand: „Sind Sie auch Sänger?“
Ein anderer Dirigent wollte es wohl besser machen und pflegte nach dem Konzert einfach allen zu gratulieren, die in seine Reihweite gelangten, so kamen auch vollkommen Unbeteiligte in den Genuss eines herzlichen Dankes für ihre engagierte Mitwirkung.
Ein Glanzstück brachte der Dirigent einer kleinen Kirchengemeinde. Nachdem er in der Probe mehrere Male erfolglos versucht hatte, einen Einsatz zu geben, schlug er dem Konzertmeister vor: „Fangen Sie einfach an, ich komm dann schon rein.“
Eine Chorsängerin äußerte, nachdem nur eine kleine Schar der
Sängerinnen auf den Dirigenten reagierte, trocken: „Er dirigiert eine Minderheit!“
Als einmal wirklich niemand einsetzte, kam der Spruch: „So klingt ein
Dirigent.“
Im Weihnachtsoratorium von Bach singt der Evangelist den
Satz: „Denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge“, wobei das Wort „Raum“ ein etwas höherer, längerer
Ton ist. Ein junger Kollege bemühte sich, nicht an den Noten zu kleben und
schaute ins Publikum, da erklang: „Denn sie hatten sonst keinen Platz in der
Herberge“ – was sehr niedlich klang.
In einem anderen Konzert stand just an dieser Stelle einen Tippfehler im
Programmheft, da wurde behauptet, es habe in der Herberge keinen „Rum“ gegeben…
Im fünften Teil des Weihnachtsoratoriums gibt es ein
Terzett, in welchem Sopran und Tenor quasi ein Duett singen und die Altistin
dazwischen fährt: „Schweigt!“
Eine Kollegin schrie diesen Einsatz so laut, dass der Dirigent sie bat, etwas
leiser zu singen, woraufhin sie konterte: „Wir werden für große Häuser
ausgebildet!“
Google-Recherchen zufolge ist diese Kollegin leider nicht in großen Häusern
gelandet.
Heinrich Schütz hat für seinen Musikalischen Exequien
Bibeltexte zusammengestellt, mit welchen der Sarg seines verstorbenen
Landesherrn beschriftet werden sollte.
Dort singen unter anderem zwei Bassisten im Duett den Satz:
„Unser Leben währet siebenzig Jahr, Und wenn’s hoch kömmt, wenn’s hoch kömmt,
wenn’s hoch kömmt, dann sind’s achtzig Jahr.“
Einer der beiden Sänger seufzte melancholisch: „Und wenn er dann wirklich mal
hochkommt, dann ist man immer allein!“
In einer Kantate von Telemann gab es eine dramatische Bass-Arie mit dem Text: „Zerschmettert die Götzen, fort, fort!“ Der arme, wirklich nette Kollege versprach sich im Konzert auf furchtbare Weise… man kann es sich vielleicht denken: „Zerschmettert die F…“ und konnte den Rest der Arie nur noch mit hochrotem Kopf zu Ende bringen.
Eine meiner ersten Schülerinnen war eine Sopranistin mit
wunderbar weicher, klarer Stimme, die auch solistisch auftrat. Sie lernte einen
Chorsänger kennen, dessen sehnlichster Wunsch es war, mit ihr zusammen
aufzutreten und auch er kam daraufhin mit Feuereifer zum Gesangsunterricht – allerdings hatte seine Stimme leider nicht
den gleichen Glanz wie diese wunderbare Sängerin. Nichtsdestotrotz drängte es
ihn auf die Bühne. Wenn ein Dirigent anrief, um seine Frau zu engagieren, war
entweder er am Telephon und verkündete stolz, er sei auch Sänger und würde gern
mit seiner Frau zusammen singen, oder er saß im Hintergrund, wenn diese an den
Apparat gegangen war, um wild zu gestikulieren, dass sie unbedingt auch ihn ins
Gespräch bringen sollte.
Die arme Frau war in einem echten Dilemma – sie liebte ihren Mann sehr, aber
sie fürchtete, dass irgendwann niemand mehr anrufen würde, sie zu engagieren,
wenn man an ihrem nicht ganz so qualifizierten Mann nicht vorbeikäme.
Das Drama fand seinen Höhepunkt, als die Dame einen Auftritt mit einem Frauenquartett
plante und ihr Mann zutiefst gekränkt war, dass er dort nicht berücksichtigt
werden sollte. Normalerweise sang er einen tiefen Bass, aber er wollte trotzdem
unbedingt mitsingen – damit waren aber die Kolleginnen nicht einverstanden und
der arme, tief gekränkte Mann hatte schlaflose Nächte, in denen er sich wälzte
und seufzte: „Sie wollen mich nicht!“
Noch Jahre später konnte der arme Kerl bestimmte Werke für Frauenchor, die in
jenem Konzert ohne ihn erklangen, nicht hören ohne dass die alte Verletztheit
wieder aufbrach.
Mein Schüler Gottfried singt seit vielen Jahren bei mir und ist ein echter Freund geworden. In den Jahren, in denen es mir nicht gelang, eine stabile Beziehung zu führen, hat er mich als allerbester Freund intensiv begleitet. In einem Schülerkonzert kündigte ich seinen Auftritt daher mit den Worten an: „In meinem wechselvollen Leben ist Gottfried die Konstante!“ – Zum darauf folgenden Geburtstagsfest gratulierte mir dieser wunderbare Mensch mit den Worten, ich solle nicht vergessen, dass ich selbst in meinem Leben die beste Konstante sei.
Mit einer Schülerin studierte ich ein Lied von Mendelssohn
nach einem Gedicht von Heinrich Heine ein. Nach einiger Zeit wunderte sie sich,
dass sie in dem Gedicht keinen rechten Sinn erkennen könne – das Gedicht
beginnt:
„Auf Flügeln des Gesanges,
Herzliebchen, trag ich dich fort,
fort nach den Fluren des Ganges,
dort weiß ich den schönsten Ort!“
Sie hatte sich unter „den Fluren des Ganges“ offenbar ein Bürogebäude vorgestellt
und wunderte sich über Mondenschein, Palmen, Gazellen und Lotosblumen…
Im Gesangsunterricht ließ ich einen jungen Mann Übungen auf Silben singen – „Lilalilalila“, Susisusisusi“, „Sojasojasoja“ – bei „Wisowisowiso“ bekam er feuchte Augen – die „Sinnfrage“ „Wieso?“ ging ihm zu nah…
Es ist nicht immer einfach, beim Unterrichten die deutsche Hochlautung zu vermitteln. Eine Schülerin sang „der Högste“ und ich versuchte, sie zu korrigieren: „Es heißt: ‚der Hö-chste‘!“ Daraufhin warf sie mir vor, ihr finstersten norddeutschen Slang zu vermitteln. Triumphierend meinte sie, die hauptberuflich Ärztin war: „Aber eines weiß ich genau – es heißt: ‚Der Nägste bitte‘!“
Meine Kinder sind vom ersten Lebenstag an mit dem Singen aufgewachsen. Wenn meine Tochter klagte, warum ich schon wieder weggehen müsste, antwortete ich: „Ich muss zum Singen, Geld verdienen.“ – Schon im Vorschulalter begann sie selbst, im Kinderchor unserer Gemeinde zu singen. Das war ihr sehr wichtig, und so mahnte sie ihre kleine Freundin, die keine Lust mehr hatte, zu den Chorproben zu gehen: „Mareile, wenn du nicht singen lernst, kannst du auch keine Geld verdienen!“
Vielleiht habe ich mit meinen Kindern weniger Kinderlieder gesungen als andere Mütter, es wurde ja ohnehin den ganzen Tag gesungen und musiziert. Mein kleiner Sohn war also ungefähr zwei Jahre alt und spielte oben in seinem Kinderzimmer, als ich hörte, wie er gedankenverloren vor sich hinsang: „uiuiuiuiuuu“
Soweit ein paar Eindrücke aus meinen „Frühzeiten“.
Einen längeren Text gibt es auf der „Konzert-Seite“ über mein dreißigjähriges Jubiläum im Hamburger Michel.