An die Nachgeborenen

27. Mai 2025

Im Alter von 20 Jahren hatte ich eine Freundin, die sich für Philosophie interessierte. Gemeinsam dachten wir darüber nach, ob es sinnvoll sei, im Regen zu laufen – denn dann läuft man ja in die Tropfen hinein, die man sonst verpasst hätte, weil sie an der Stelle, die man dann erreicht, schon gefallen wären –
der Faktor Zeit fiel uns damals nicht ein

Diese Freundin machte mich mit dem Text „An die Nachgeborenen“ von Bertolt Brecht bekannt.

Das Gedicht entstand zwischen 1934 und 1938, in der Zeit des Nationalsozialismus, in welcher Brecht gezwungen war, Deutschland zu verlassen und ins Exil zu gehen.
Es beschreibt die Ohnmacht des Autors, dem es nicht gelungen ist, das Aufkommen des Faschismus zu verhindern und beginnt mit den Worten:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten.

Vor allem ein Satz des Gedichts ließ mich nie wieder los:Nichts von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen.

Dieser Satz rückte mir ins Bewusstsein, was für ein Privileg es ist, genau an diesem Ort und zu dieser Zeit geboren zu sein!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn / Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt? / Und doch esse und trinke ich.

Seit mir dieser Satz begegnete, empfinde ich eine tiefe Demut dem Leben gegenüber und ein tiefes Mitgefühl mit denen, die diese Privilegien nicht haben!

Dreißig Jahre, nachdem ich es zum ersten Mal las, begegnete mir das Gedicht „An die Nachgeborenen“ wieder:
Seit 2019 präsentieren Inés Fabig, Gerd Jordan und ich Veranstaltungen gegen Faschismus und Krieg. (auch hier im Kulturkreis haben wir die Programme schon präsentiert)
Hanns Eislers Vertonung des Gedichts hat dabei einen zentralen Stellenwert.

Brecht und Eisler schrieben die Texte und Lieder unserer Programme als Exilanten in den USA, während in Europa Vernichtungskrieg und Nazi-Terror wüteten.

Ihre Worte haben eine grauenhafte Aktualität bekommen. Sie handeln nicht mehr nur von einer fernen Vergangenheit.
Neue Daten brennen sich in die Geschichtsbücher: Der 24. Februar 2022 und der 7. Oktober 2023 stehen für den Beginn von Kriegen, die uns alle betreffen und erschüttern.
Wenn man „Gewalt gegen Juden“ googelt, öffnen sich nicht mehr Verweise auf historische Ereignisse, sondern Berichte über aktuelle Geschehnisse.
Achtzig Jahre nach dem Holocaust treten wieder Rechtsradikale einen Siegeszug an, geschichtsvergessen und selbstbewusst.
Und durch die Entwicklungen in den USA wird das Gefüge sicherer, verlässlicher Bündnisse auf eine harte Probe gestellt und in bis vor kurzem unvorstellbarem Ausmaß aufgerüstet.

Etliche Sätze der Gedichte unseres Programms verbinden sich mit hoch aktuellen Bildern:

Wir hören von „Richtern, die zu allem bereit sind“ und denken an die USA,
Bei „Sie schossen ihre Pistolen in jeden besseren Kopf“ fällt uns Walter Lübcke ein
„Im Gefängnis zu singen“ erinnert an den Tod von Alexey Nawalny,
und in dem Lied „Ändere die Welt“ – wird die Frage gestellt: „Mit wem säße der Rechtliche nicht zusammen, dem Rechte zu helfen?“ – über diese Frage kann man in Anbetracht der jüngsten Entwicklungen lange nachdenken.

Unsere Programme haben wir konzipiert, weil es immer mehr junge Menschen gibt, denen der Begriff „Auschwitz“ nichts mehr sagt, und weil wir eine Antwort auf die Frage geben wollten, warum man sich heute noch mit den ungeheuerlichen Geschehnissen Mitte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen sollte.

Ich selbst habe lange behauptet, dass wir in der Schule das Dritte Reich nicht behandelt hätten – aber Jahre später fiel mir ein, dass wir den Film „Mein Kampf“ im Kino gesehen und sogar das Anne-Frank-Haus in Amsterdam besucht hatten – wie kann es angehen, dass dieses Thema mich damals überhaupt nicht erreicht hat? Lag es an den Nazi-Büchern, die mein Großvater verfasst hat, für die er heute ins Gefängnis käme, die aber von meiner Familie nur milde belächelt wurden als „unbewältigte Vergangenheit“?
In kompletter Ahnungslosigkeit grüßte ich eines Morgens meine Klasse mit „Heil Hitler!“ – glücklicherweise bekam ich dafür eine volle Breitseite von meinem entsetzten Geschichtslehrer!
Vor einigen Jahren posteten die Mitschüler meines Sohnes grauenhafte rassistische, antisemitische und schwulenfeindliche Sticker. Angefeindet wurden zunächst nicht die Urheber, sondern die als Petze beschimpften Kinder, die diese Posts ihren Eltern gezeigt hatten.
Da konnte ich einerseits nachvollziehen, wie ahnungslos und verwirrt man im Alter von 14 Jahren sein kann, andererseits konnte ich aber auf das schärfste reagieren und, so hoffe ich, auch deutlich machen, dass es nicht Denunziantentum, sondern Zivilcourage ist, gegen derartige Widerlichkeiten vorzugehen.

Warum erzähle ich das heute? 
Sprache ist in der Lage, emotional erlebbar zu machen, was Menschen Menschen antun können, angetan haben und immer noch antun.
Auch heute werden Menschen verfolgt, vertrieben und vernichtet.

Dichter finden Worte, die diffuse Gefühle in Worte fassen und komplexe Sachverhalte nachvollziehbar, nachspürbar machen.

Kunst kann der Unterhaltung dienen, sie kann uns „in eine bessre Welt entrücken“, das ist eine wichtige Funktion, sie kann und muss aber auch Missstände formulieren und uns aufrütteln, diese zu bekämpfen.

Also zurück zu dem Appell „An die Nachgeborenen“:
Brecht formuliert:
Eine glatte Stirn / Deutet auf Unempfindlichkeit hin.
Der Lachende / Hat die furchtbare Nachricht / Nur noch nicht empfangen.

Und er mahnt:
Der dort ruhig über die Straße geht / Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde / Die in Not sind?

Selbst die folgenden Sätze muten angesichts der Klimakrise fast prophetisch an:
Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Das Gedicht ist aber auch ein Appell gegen jede Form von Hass:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht / Macht die Stimme heiser.
Ach, wir / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / Konnten selber nicht freundlich sein.

Brecht wendet sich an die Nachgeborenen, also an uns, mit der Bitte um Verständnis und Nachsicht für die Unzulänglichkeiten und Schwächen unserer Vorfahren, und er schließt mit der Hoffnung auf bessere Zeiten:
Ihr aber, wenn es soweit sein wird / Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht.


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